«Aus einem deutschen Lied geschnitten» – das ist eine Serie von kurzen Texten, jeweils kombiniert mit einem Musikvideo. Von einer Liedzeile ausgehend, streift Georg Klein durch ganz unterschiedliche Landschaften. Es geht um den Reiz des Nichtstuns, um Film- und andere Küsse und die unheimliche Präsenz des Brillenmanns. Es geht um Erde, Feuer, Wasser und Luft, ums Tanzen – und auch um die Transparenz von Stubenfliegenflügeln.
Die musikalische Begleitung der Textminiaturen ist exquisit. «Deutsches Lied», das ist bei Georg Klein ein weites Feld: Marlene Dietrich und Rammstein, Georg Kreisler und Großstadtgeflüster, nicht zu vergessen die Elektroavantgardisten Kraftwerk (mit einer sensationellen Erstklässlerversion von «Roboter»).
Kurz: Georg Klein macht Text und «Musik / Da bleibt dir die Luft weg» (Ilse Werner).
Nicht bloß der einzelne Mensch, sondern auch die Prothesen, die ihm die Kultur für seinen Körper baut, ziehen eine bogenförmige Bahn durch die Zeit: Sie gewinnen an Wichtigkeit, durchlaufen eine Hochphase ihrer Verbreitung, um irgendwann seltener, schließlich gar nicht mehr benutzt zu werden, weil sich die Gründe für ihren Gebrauch beseitigen ließen oder bessere Hilfsmittel an ihre Stelle treten.
Dass Männer und Frauen in der Regel am Stock gingen, sobald ein vernutztes Hüftgelenk das Ausschreiten unsicher und schmerzhaft machte, liegt hierzulande wenig mehr als ein halbes Jahrhundert zurück. Und im Fernsehen meiner Kindheit wurde noch ungeniert offensiv für ein Pulver geworben, mit dem sich das künstliche Komplettgebiss, wie es damals auch bei gar nicht so alten Erwachsenen recht häufig war, besonders sicher im Mund festkleben ließ.
Wie Handstock oder Zahnersatz, wie Herzschrittmacher oder Hörgerät gleicht auch die Brille einen chronischen Mangel unseres Körpers auf technischem Wege aus. So gesehen scheint sie Prothese unter Prothesen. Aber ihre Allgegenwart, ihre unübersehbar dichte Präsenz ist zu einem Merkmal geworden, das sie von allen anderen vergleichbaren Hilfsmitteln unterscheidet. Brillenmann, Brillenfrau und Brillenkind gehören zu unserer Familie, zu unserem Freundeskreis, zu unseren Bekannten und Kollegen. Sobald auch nur eine gute Handvoll Menschen zufällig beisammenstehen, ist mit nicht geringer Wahrscheinlichkeit ein Brillenträger dabei. Ja, womöglich benutzen auch Sie im Augenblick dieser Lektüre eine Lese- oder Gleitsichtbrille, um eine angeborene oder mit dem Älterwerden entstandene Sehschwäche auszugleichen.
Bemerkenswert, dass dieses ubiquitäre Behelfsding parallel zu seiner schlagenden Nützlichkeit auch noch schön sein kann! Wenn Prothesen vorrangig aus ästhetischen Gründen zum Einsatz kommen, wie es zum Beispiel bei Haarersatz, falschen Fingernägeln oder Brustimplantaten der Fall ist, versucht man meist ihre Künstlichkeit mit dem Anschein einer gesteigerten oder idealisierten zweiten Natürlichkeit zu überblenden. Deshalb darf der chirurgisch modellierte Busen in der Regel nicht spektakulär von den Formen abweichen, die eine weibliche Brust, selbsttätig herangewachsen, angenommen haben kann. Und wer sich Hunderte von Haaren umpflanzen lässt, hofft, dass das Ergebnis zumindest annähernd so ähnlich aussieht wie das, was er in jüngeren Jahren als Schopf zu bieten hatte.
Die Brille geht den entgegengesetzten Weg. Sie verleugnet keine Sekunde, dass sie unserem Körper hinzugefügt ist und als Accessoire jederzeit von ihm separierbar bleibt. In Form und Farbe stellt sie ihre Gemachtheit zur Schau. Und der verspielte Chic, die radikale Sachlichkeit oder die provokante Extravaganz des Gestells markieren, wie dies auch Schmuck oder ausgefallene Kleidung vermögen, ein auratisches Magnetfeld um das letztlich Leibliche, das Bedeutungen vielfältiger Art an sich zieht.
Ich weiß nicht, ob die amerikanische Schauspielerin Dorothy Malone privat, also abseits der Hollywoodstudios, Brillenträgerin war. Im Film-Noir-Klassiker «The Big Sleep / Tote schlafen fest» spielt sie eine namenlose «spectacled bookseller», eine Buchhändlerin mit Brille. Ihr einziger Auftritt ist eine lange, unter Cineasten legendär gewordene Flirtszene mit der von Humphrey Bogart verkörperten Hauptgestalt. Die Spannung des zunehmend anzüglichen Dialogs erreicht ihren Höhepunkt, als die Buchhändlerin-mit-Brille just diese von der Nase hebt, weil sie die grazile Prothese für das, was der Film diskret in einem Zeitsprung verbirgt, «not necessarily» braucht.
Schwer vorstellbar, dass sich mit Kontaktlinsen ein ähnlich subtiler Effekt erzielen ließe. Denn wer eine Brille so ostentativ ablegt, entkleidet sich in besonderer Weise: Das Auge, nackt wie vielleicht nichts an unserem Körper, verliert, sobald die Brille fällt, den doppelten Schutz, den ihm die Kultur mit diesem Hilfsmittel verliehen hat: Der Schild der nachweislichen Nützlichkeit sinkt, der Schleier artifizieller Schönheit hebt sich. Beneidenswert, wenn sich dies zwischen Brillenmann und Brillenfrau vollzieht! Denn nur ein bebrilltes Paar wird, solange es diese Prothesen noch geben mag, in der Lage sein, sich derart paritätisch voreinander zu entblößen.
ERFOLG und der beste Damenchor aller Zeiten: «Brillenmann» Text: Johannes von Weizsäcker
Für Rat aller Art danke ich Stephan Turowski und Wilko de Vries.