Das Mutterideal ist unerreichbar und voller Widersprüche. Mütter sollen heute alles sein. Nichts kann man richtig machen und niemandem etwas recht. Mutterschaft berührt jeden Lebensbereich. Denn egal, ob es um Arbeit, Geld, Sex, Körper, Psyche oder Liebe geht – Stereotype, Klischees und gesellschaftlichen Druck gibt es überall, auf Instagram, im Bett und im Büro. Mareice Kaiser, Journalistin und selbst Mutter, zeigt, wo Mütter heute stehen: noch immer öfter am Herd als in den Chefetagen. Und, wo sie stehen sollten: Dort, wo sie selbst sich sehen – frei und selbstbestimmt.
DAS INTERVIEW
Was bedeutet es, wenn mit Annalena Baerbock eine 40-jährige zweifache Mutter Kanzlerkandidatin der Grünen wird?
Annalena Baerbock ist eine Chance für mehr Vereinbarkeit im Politikbetrieb und auch in allen anderen Jobs. Sie hat einmal gesagt, dass sie Mutter bleiben wird, auch als Spitzenpolitikerin – und dass es Zeiten geben wird, in denen ihre Kinder wichtiger sein werden als ihr Job. Genau solche Menschen muss es viel mehr geben in Entscheidungspositionen: Menschen, die klarmachen, dass ihre Erwerbsarbeit nur ein Teil ihres Lebens ist – und ihre Fürsorge um andere Menschen ein anderer, wichtiger Teil. Das sollten übrigens Menschen aller Geschlechter tun, nicht nur Frauen.
Was macht «Mutter/Mutterschaft» zu einer «politischen und symbolischen Kategorie», wie die kanadische Schriftstellerin Sheila Heti schreibt?
An Müttern sehen wir die Auswirkungen von Familien-, Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, und zwar von allen gleichzeitig. Meine These ist: Eine Politik, die sich an Müttern ausrichtet, ist eine gute Politik für alle. Wenn wir bei allen politischen Entscheidungen eine Modellfamilie in den Fokus stellen würden, eine alleinerziehende Mutter von drei Kindern, und uns immer fragen: Wie müssten die Rahmenbedingungen aussehen, damit diese Familie ein gutes Leben führen kann? Dann könnten alle Menschen ein besseres Leben führen.
2021 hat Deutschland sein sogenanntes Super-Wahljahr. Wie kriegt man Themen, die in Ihrem Buch eine große Rolle spielen, in die Politik hinein: z. B. Care-Arbeit, Unvereinbarkeit von Familie und Beruf, Gender Pay Gap, Regenbogenfamilien, queere Lebensgemeinschaften, Adoptionsrecht, strukturelle Benachteiligung im Berufsleben etc.?
Ich denke, diese Themen muss man gar nicht «in die Politik hinein» kriegen, sie sind von sich aus höchst politisch. Das Private ist politisch, das haben mittlerweile zum Glück viele Menschen verstanden. In der Politik leider noch nicht alle. Ein Weg kann sein, die Strukturen innerhalb der Politik zu verändern. Politik als Ehrenamt oder Job muss auch für Eltern möglich werden. Wie in den Medien und in der Literatur sind Eltern auch in der Politik unterrepräsentiert, das muss sich ändern. Und insgesamt muss in den Köpfen von Politiker*innen einfach mal ankommen, dass es ohne Menschen und Fürsorge füreinander auch keine Wirtschaft geben kann.
Sie beschreiben eindrücklich, wie direkt und massiv Corona Sie beim Fertigschreiben dieses Buches blockiert hat. «Die Corona-Krise ist eine Krise in der Krise» – was meinen Sie damit?
Die Corona-Krise findet vor dem Hintergrund der Klimakrise statt. Von beiden Krisen sind unsere Kinder stärker betroffen als wir. Beide Krisen zeigen in ihren Auswirkungen deutlich die soziale Ungleichheit in Deutschland, aber auch in der Welt. Wir können und müssen Strategien zur Überwindung dieser Krisen solidarisch und unter Berücksichtigung der sozialen Ungleichheit finden.
Müsste Virginia Woolfs berühmter Essay «Ein Zimmer für sich allein» nicht eigentlich Schullektüre sein?
Unbedingt – neben vielen anderen wichtigen Büchern von Autorinnen! Noch immer ist der kulturelle Kanon in Deutschland mehrheitlich männlich und damit auch die Schullektüre. Das muss sich – neben vielen anderen Dingen in der Bildungspolitik – dringend ändern.
Ihr Buch steckt voll guter Gründe, zornig, laut und rebellisch zu sein. Die Soziologin und Philosophin Frigga Haug rät Ihnen zu mehr Geduld. Wie schwer fällt es Ihnen, den Rat einer klugen 83-jährigen Feministin anzunehmen?
Frigga Haug selbst ist ja auch rebellisch – ein Grund, aus dem ich das Gespräch mit ihr gesucht habe. Sie erzählt mir im Gespräch für das Buch ja sogar von ihrem Zorn. Wie sie «zornig darüber anfing nachzudenken», was für eine Vergeudung eine Mutter für jedes einzelne Kind am Sandkasten ist. Wie viel ungenutztes Potenzial für gesellschaftspolitische Veränderung in diesen Müttern steckt – und wie wenig davon durch die Strukturen, innerhalb derer wir leben, ungenutzt ist. Dass Frigga Haug gleichzeitig mit 83 Jahren ein anderes Verhältnis zur Zeit hat als ich als 39-jährige Frau, das finde ich verständlich und legitim.
Wenn Sie politisch-gesellschaftlich die Macht hätten, ad hoc drei strukturelle Veränderungen der Berufswelt durchzusetzen – welche wären das?
Vollzeit von 25 Stunden für alle, inklusive fairem Gehalt, von dem Menschen gut leben können; bedingungsloses Grundeinkommen; Abschaffung des Ehegattensplittings. Das wäre mal ein Anfang.