Im Gespräch

«Die Schuld und die Liebe und der Zorn dazwischen»: Caroline Peters über ihren Roman «Ein anderes Leben»

«Ein großartiges Buch, wahnsinnig berührend, aber auch lustig … Eine absolute Leseempfehlung!» ORF

Die Autorin und Schauspielerin Caroline Peters
© Mirjam Knickriem/photoselection

Wer war Hanna? Diese Frau, die so oft aus der Rolle fiel, die nacheinander ihre drei Studienfreunde heiratete und drei Töchter bekam, immer mit Gedichten im Kopf, über die sie den Alltag vergaß, die ihren Platz suchte zwischen den Erwartungen der Familie an sie und den eigenen Ansprüchen ‒ und nur selten für sich sein konnte. Viele Jahre nach Hannas Tod blickt die jüngste Tochter zurück auf das Leben ihrer Mutter, auf die eigene Kindheit im Rheinland der Siebziger und Achtziger. Ein Leben zwischen Bürgerlichkeit und Boheme ‒ bis sich Hanna entscheidet, die Familie zu verlassen und ihr Leben allein von vorn zu beginnen. 
Mit großer Einfühlsamkeit und Leichtigkeit erzählt Caroline Peters von den Fragen einer Tochter an die verstorbene Mutter und an sich selbst ‒ und davon, was es heißt, eigene Wege zu gehen. Ein sehr persönliches Buch, kraftvoll, berührend und von hinreißendem Humor.

DAS INTERVIEW

Liebe Caroline Peters, Hanna ist das energetische Kraftzentrum Ihres Romans. Promovierte Slawistin, Lyrikübersetzerin mit einem Faible für die Kunst der russischen Avantgarde. Eine Frau, die aus der Rolle fällt: unkonventionell, kompliziert, lebensneugierig, dominant, lustig. Auch Ihre Mutter Johanne Peters war Literaturwissenschaftlerin. Aber Johanne ist nicht Hanna …

Nein, absolut nicht. Es ist natürlich alles dramatisch verdichtet und zugespitzt. Aber mich hat der Blick meiner Mutter nach Osten, nach Russland fasziniert, ein Blick, der tatsächlich sehr von Kunst, Literatur, Dichtung geprägt war. In dem bürgerlichen Umfeld im Westdeutschland der 60er, 70er und 80er, in dem sie sich damals bewegt hat, ist sie mit ihren Denkweisen stark angeeckt. Ich glaube nicht, dass sie das Anecken um des Aneckens willen genossen hat. Ich denke eher, das war Stress für sie. Was so oft als befreiende Emanzipation gelesen wird, bedeutet nicht selten nur, sich mit aller Kraft zu wehren. Hanna befreit sich nicht von ihrer Familie, es bleibt ihr lediglich keine andere Wahl. Die Rolle der Mutter im Haushalt lässt sich in ihrer Zeit nicht anders gestalten denn als Familien-Muli. Und da sie wirklich schreiben will, bleibt ihr nichts anderes übrig, als zu gehen. Schöner wäre es, zu bleiben und trotzdem zu schreiben.

«Mitschreiben am Buch Hanna» – in diesem Familienclan läuft das auf einen mindestens sechsstimmigen Chorsatz hinaus. Hanna und ihre drei Töchter von drei (Ex-)Ehemännern – das ist die Grundkonstellation des Romans. Ist Ihnen eigentlich Familienpatchwork aus der eigenen Kindheit vertraut?

Nein, aus der Kindheit nicht, unsere Familie hat sich erst später in das verzweigt, was man so gern als Patchwork bezeichnet. Hinter dem «Mitschreiben am Buch Hanna» steckt die Idee, dass sich das Bild, das sich eine Familie von sich macht, aus vielen mündlichen Erzählungen und Überlieferungen zusammensetzt, ein imaginäres, bibelartiges Buch, an dem viele mitschreiben und dessen Auslegung mitunter hart umkämpft ist. In meiner Erfahrung sind es die Frauen, die der Familie die Familie erzählen.

Die Frage, ob es neben dem Leben, das wir führen, noch ein anderes Leben gibt, ist ein reizvoller Gedanke.

Zu den großen Themen Ihres Romans gehört der Kampf um die Deutungshoheit über die eigene Geschichte. Und die Frage, ob es neben dem Leben, das wir führen, nicht noch «ein anderes Leben» gibt, das auf uns wartet. Liegt darin der Reiz von Familiengeschichten – und Familienromanen?

Die Frage, ob es neben dem Leben, das wir führen, noch ein anderes Leben gibt, ist ein reizvoller Gedanke. In gewisser Weise zeichnet der Roman «ein anderes Leben» als das, was meine Mutter tatsächlich gelebt hat, ein Leben, wie es für sie hätte sein können. Zugleich geht es um «ein anderes Leben» der Ich-Erzählerin, ab dem Moment, als beide Eltern beerdigt sind. Die Deutungshoheit ist dann wieder frei auf dem Feld der familiären Überlieferungen. Die eigene Geschichte lässt sich auch gut erzählen. Viel schwieriger ist es mit der Geschichte der Familie, der Ahnen, gerade in Deutschland. Es gibt so viel düstere, aber auch schmerzvolle Vergangenheit zu bewältigen. Ob in der Familie ehrlich gesprochen wird oder nicht, spielt dabei fast keine Rolle. Die Ungetüme der Vergangenheit sind sowieso da, und wir müssen jeder einen eigenen Umgang mit ihnen finden.

Es gibt eine Reihe wunderbar amüsanter Passagen, gerade da, wo es um Schweres, Trauriges geht. Etwa die bizarre Diskussion, wie ökologisch nachhaltig wohl das Versenken von Hannas Asche in einer mit Blei beschwerten Flaschenpost sei; oder das «Buffet des Wahnsinns» bei Bows Beerdigung. Wie wichtig ist Ihnen diese spielerische, leichtfüßige Note im Roman?

Mir ist es sehr wichtig zu zeigen, wie ich das Leben oft empfinde – absurd. Unsere Vorstellung geordneter Verhältnisse löst sich für mich an den wenigsten Tagen des Jahres in der Realität ein. Ich glaube auch, dass ich damit nicht allein bin. Allein fühle ich mich in dem Versuch, diesem Missverhältnis nicht mit einer übergestülpten «geordneten» Sicht der Dinge entgegenzuwirken. Das habe ich schon vor Jahren aufgegeben. Das Leben hat so viele absurde Situationen für uns, und ich bin bereit, sie anzunehmen. Es gibt nur sehr wenig Schwarzweiß, wenn man durch meine Brille guckt. Das Meiste hat irrsinnige Schattierungen von Mischfarben.

Ein anderes Leben

Bestseller

Wer war Hanna? Diese Frau, die so oft aus der Rolle fiel, die nacheinander ihre drei Studienfreunde heiratete und drei Töchter bekam, immer mit Gedichten im Kopf, über die sie den Alltag vergaß, die ihren Platz suchte zwischen den Erwartungen der Familie an sie und den eigenen Ansprüchen — und nur selten für sich sein konnte. Viele Jahre nach Hannas Tod blickt die jüngste Tochter zurück auf das Leben ihrer Mutter, auf die eigene Kindheit im Rheinland der Siebziger und Achtziger, in der Hanna dafür sorgt, dass die Tage immer etwas anders sind als üblich. Ein Leben zwischen Bürgerlichkeit und Boheme: mit Champagner und Puschkin am Sonntagmorgen im Bett, Besuche nach der Schule in der Institutsbibliothek, wo die Mutter arbeitet und mit verschüchterten Studenten flirtet, Pokern unterm Weihnachtsbaum, abenteuerliche Fahrten in der Ente — bis sich Hanna entscheidet, die Familie zu verlassen und ihr Leben allein von vorn zu beginnen.

Mit großer Einfühlsamkeit und Leichtigkeit erzählt Caroline Peters von den Fragen einer Tochter an die verstorbene Mutter und an sich selbst — und davon, was es heißt, eigene Wege zu gehen. Ein sehr persönliches Buch, kraftvoll, berührend und von hinreißendem Humor.

Hier bestellen

  • Amazon
  • Genialokal
  • Hugendubel
  • Osiander
  • Thalia

Wie viel Caroline steckt in Laura, Lotta und der Jüngsten, der Ich-Erzählerin – darf man so etwas fragen?

Das darf man gern fragen. Da steckt sehr viel von mir drin. Zwei der Schwestern sind Schauspielerinnen, und in diesem Metier kenne ich mich natürlich am besten aus. Ich habe alle drei Figuren mit meinen eigenen Gedanken ausgestattet, schon um meine wirklichen Geschwister nicht in die Erzählung zu verwickeln. Jede der Töchter arbeitet sich auf ihre Weise an der gemeinsamen Mutter ab. Aber auch an der besonderen Familienkonstellation, die anders ist als bei den meisten Gleichaltrigen, bei denen traditionell der Vater das Zentrum der Gemeinschaft bildet. Im Fall von Hannas Töchtern ist das schwierig, denn jede hat einen anderen Vater. Das Gemeinsame entsteht nur, wenn sie Hanna zum Zentrum der Familie machen. Das aber entspricht nicht dem allgemeinen Denken in Deutschland nach Krieg und Teilung. 

Gemeinsam mit Ihrem Lebensgefährten betreiben Sie in Wiens Margarethenstraße einen Kunst- und Postkartenverlag, ein Herzensprojekt: art postal. Was reizt Sie beide so sehr an Postkarten?

Postkarten schreibt man aus Liebe und aus Freundschaft. Die unartige, zickige, böswillige Karte gibt es nicht. All diese Gefühle kann man auf mehreren Bühnen in den sozialen Medien verteilen, wenn man meint, das zu müssen. Aber keiner macht sich die Mühe, eine wirklich boshafte Karte zu schreiben. Wir sehen art postal auch als einen künstlerischen Treffpunkt, bei dem die offene Gesellschaft gefeiert wird. Mit offenen Texten auf der offenen Karte.

Wie geht es in den nächsten Monaten weiter für Sie: Lesereise, Frankfurter Buchmesse – und dann Wiener Burgtheater, wo Sie 2025 unter anderem in einem vermutlich hochkontroversen Elfriede-Jelinek-Stück zu sehen sein werden?

Ganz genau so! Ich lerne die deutsche Literaturszene kennen und freue mich darauf sehr. Eine ganz neue Welt für mich. Im Kino gibt es Ende des Jahres wieder eine Premiere; der Film heißt «Der Spitzname», es ist der letzte Teil einer Trilogie von Sönke Wortmann. Und am Wiener Burgtheater werde ich im kommenden Jahr an einem großen literarisch-politischen Projekt teilnehmen: «Burgtheater», das Skandalstück von Elfriede Jelinek. Uraufgeführt 1985 in Bonn. In Wien wurde es nie gezeigt. Es handelt von Künstlern und ihren Verwicklungen in totalitären Verhältnissen. Ist Kunst frei, oder wird sie von der jeweiligen Macht korrumpiert? Haben Künstler Überzeugungen, oder hängen sie ihre Fähnchen in den Wind? In Österreich sind diese Fragen seit der vergangenen Wahl sehr wichtig geworden. Auch in Deutschland gewinnen sie aktuell an Bedeutung. Die Kulturetats von Berlin und München werden so gekürzt, dass eigentlich kein Raum für Kunst bleibt und die Subventionen primär in der Verwaltung hängen bleiben werden. Ist das eine kollektive Strafe dafür, seit Jahren kritisch und eigenständig gewesen zu sein?

Caroline Peters

Caroline Peters

Caroline Peters, geboren 1971, zählt zu den bekanntesten deutschen Schauspielerinnen. Nach einem Studium an der Hochschule für Musik und Theater in Saarbrücken war sie Ensemblemitglied an den wichtigsten deutschsprachigen Theatern, unter anderem an der Berliner Schaubühne, am Hamburger Schauspielhaus und am Wiener Burgtheater. Sie spielt in Kino- und Fernsehproduktionen, etwa in der Krimiserie «Mord mit Aussicht» oder in Sönke Wortmanns «Der Vorname», und erhielt zahlreiche Auszeichnungen, wie den Adolf-Grimme-Preis, den Bayerischen Fernsehpreis, den Deutschen Schauspielpreis oder den Nestroy-Theaterpreis. 2016 und 2018 wurde Caroline Peters zur Schauspielerin des Jahres gewählt. «Ein anderes Leben» ist ihr erster Roman.