Acht Jahre nach dem internationalen Erfolg seines Romans «In Zeiten des abnehmenden Lichts» ist Eugen Ruge mit «Metropol» zur Geschichte seiner Familie zurückgekehrt. Rekonstruiert werden zwei Jahre im Leben seiner Großmutter Charlotte, die den Beginn des «Großen Terrors» (1936–1938) in der UdSSR erlebte und überlebte. Ihr ganzes Leben hat Charlotte über diese dramatische Zeit geschwiegen. «Metropol» beleuchtet in schmerzhafter Intensität die Vorgeschichte dessen, was Ruges Vater Wolfgang in seinem Erfahrungsbericht «Gelobtes Land. Meine Jahre in Stalins Sowjetunion» beschrieben hat. Eugen Ruges Romandebüt «In Zeiten des abnehmenden Lichts» (Deutscher Buchpreis 2011) spannt den Bogen der Familienerzählung weiter bis ins Jahr 1989, als mit der DDR nicht nur ein Land unterging, sondern eine politische Vision erlosch.
Drei Bücher, eine einzige Geschichte: Der Erlebnisbericht «Gelobtes Land» steht zeitlich zwischen den Romanen «Metropol» und «In Zeiten des abnehmenden Lichts» – zusammen bilden sie eine der wohl umfassendsten und ergreifendsten Erzählungen des deutschen Kommunismus im 20. Jahrhundert.
I. Eugen Ruge: «Metropol»
«Dies ist die Geschichte, die du nicht erzählt hast. Du hast sie mit ins Grab genommen. Du warst sicher, dass sie niemals wieder ans Licht kommt.» Dass diese Geschichte überhaupt erzählt werden konnte, verdankt sich der Tatsache, dass es Eugen Ruge auf verschlungenen Wegen gelang, die Komintern-Kaderakte seiner Großmutter im Russischen Staatsarchiv für Soziopolitische Geschichte, dem ehemaligen Institut für Marxismus-Leninismus, aufzuspüren. Ohne diesen Stapel alten, schweren Papiers (246 Blatt, handschriftlich durchnummeriert) wäre ein zentraler Teil der Ruge'schen Familiengeschichte unentdeckt geblieben. Und dieser Roman wäre nie geschrieben worden. «Ich weiß nicht, was meine Großmutter wirklich gedacht hat», schreibt Eugen Ruge im Epilog des Romans. «Ich erfinde, ich unterstelle, ich probiere aus, denn nichts anderes heißt Erzählen: ausprobieren, ob es tatsächlich so gewesen sein könnte.»
Charlotte (Deckname: Lotte Germaine) war mit ihrem Lebensgefährten Hans Baumgarten (Deckname: Jean Germaine) zwischen 1936 und 1938 eineinhalb Jahre lang im Moskauer Hotel Metropol interniert. Es waren Lenins Kampfgefährten, Bolschewiki der ersten Stunde, die, meist im Morgengrauen, von Schergen des berüchtigten NKWD abgeholt wurden: Sinowjew, Kamenew, Bucharin, Rykow, Pjatakow, Radek, Tuchatschewski, aber auch unzählige «verdächtige» Wissenschaftler, Militärs, Künstler, Ökonomen, Verwaltungsfunktionäre. Verschleppt, gefoltert und zum Tode verurteilt nach erzwungenen «Geständnissen», wurden sie als «trotzkistische Verschwörer», «terroristische Attentäter», Agenten der «Fünften Kolonne des Faschismus» exekutiert.
Dieses Schicksal wartete auch auf viele Mitarbeiter der OMS, des sagenumwobenen Geheimdienstes der Komintern, im Hotel Metropol in direkter Nachbarschaft des Bolschoi-Theaters, in Sichtweite von Kreml und Lubjanka. Es waren quälende Monate des Wartens zwischen Leben und Tod. Lotte und Hans hatten an dem Punkt Zwei genannten Standort des Komintern-Geheimdienstes gearbeitet. Ein einziges Mal hat Charlotte diesen Ort in einem Brief an ihren Sohn Wolfgang erwähnt, fünfzig Jahre später, kurz vor ihrem Tod, aber noch immer in geheimnisvoller Verschlüsselung: «Ich fühle mich manchmal so einsam wie auf .2» – eine winzige, unscheinbare Anspielung auf das, worüber sie lebenslänglich geschwiegen hat.
Eugen Ruge seziert in «Metropol» die demoralisierende Willkür und mörderische Logik der Stalin'schen Herrschaft aus der Perspektive dreier Protagonisten: seiner Großmutter Charlotte, der lettischen Kommunistin Hilde Tal und des für unzählige Todesurteile verantwortlichen obersten Militärrichters Wassili Wassiljewitsch Ulrich. Ausgerechnet er, bizarre Ironie der Geschichte, überlebte das Grauen dieser Jahre: Stalins Blutrichter starb, dekoriert mit allen Großorden des Sowjetstaates, am 7. Mai 1951 in Moskau friedlich in seinem Bett.
Weshalb ausgerechnet Lotte und Hans die Liquidation der OMS durch Stalins Richter überlebten und später dank der Hilfe der jüdischen Organisation Hizem über Paris, Marseille und Casablanca das rettende Exil in Mexiko erreichen konnten, bleibt ein Rätsel, eine Volte des Zufalls. Aber was heißt das schon? «Der Zufall gehörte zum Wesen der außer Rand und Band geratenen Terrormaschine Stalins ... Jeder konnte denunziert werden. Jeder war in Gefahr. Und ebenso konnte jemand grundlos verschont bleiben.»
II. Wolfgang Ruge: GELOBTES LAND
Im Sommer 1933, nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten, brach ein 16-jähriger Jungkommunist mit seinem zwei Jahre älteren Bruder aus Berlin über die Skandinavien-Route in die Sowjetunion auf – Wolfgang Ruge, der Vater von Eugen Ruge. Nach dem Abitur und einem Geschichtsstudium an der Kommunistischen Universität der nationalen Minderheiten des Westens in Moskau erlebte er den Abschluss des Hitler-Stalin-Pakts 1939 («ein Keulenschlag») als Verrat an den deutschen Kommunisten im Untergrund und am polnischen Nationalstaat. Zwei Jahre später war es vorbei mit der «unverbrüchlichen» Diktatorenfreundschaft, deutsche Armeen zogen Richtung Moskau, um dem verhassten Bolschewismus ein Ende zu bereiten.
Auch die Ruge-Brüder gerieten unter die Räder der Terrormaschinerie. Wolfgang Ruge wurde wegen seiner deutschen Herkunft zusammen mit seiner Frau Veronika nach Karaganda im Verwaltungsbezirk Ossokarowka, Kasachstan, deportiert. Nach wenigen Monaten ereilte ihn dort ein Gestellungsbefehl zur sogenannten Arbeitsarmee. Abzuleisten ist der Dienst unter Haftbedingungen im Arbeitslager 239 im Nordural; seine Frau musste Wolfgang Ruge zurücklassen. Quälender Hunger, mörderische Kälte, brutale Arbeitsfron kosteten zahllose Insassen das Leben: Es waren unvorstellbar harte Jahre, die Ruge als «Deutschländer» im Gulag überstand.
Drei Jahre nach der Kapitulation von Nazi-Deutschland zerschlug sich seine Hoffnung, direkt nach Deutschland zurückkehren zu können. Das zu Beginn des Krieges verhängte Verdikt wurde zwar aufgehoben – aber nur, um in «ewige Verbannung» umgewandelt zu werden. Als «gewöhnlicher Sonderausgesiedelter» musste man nicht mehr in den Lagerbaracken wohnen, durfte sich aber unter Androhung der Todesstrafe vom Lagerort nicht weiter als sieben Kilometer entfernen. Wolfgang Ruge heiratete in Soswa erneut, begann – gegen das Verbot verstoßend – ein Fernstudium der Geschichte im vierhundert Kilometer entfernten Swerdlowsk. Erst 1956 kehrten er und seine Frau Taja nach Ostberlin zurück – auf seine Rehabilitierung musste er bis 1964, dreiundzwanzig Jahre nach der Verbannung, warten.
2012 gab Eugen Ruge die Erinnerungen seines Vaters in überarbeiteter Form heraus: als beklemmendes Zeitzeugnis und zentrales Puzzleteil in der Geschichte seiner eigenen Familie. Warum sein Vater nach all den Schrecken, die er erlebt hatte, in den Osten Deutschlands und nicht in den Westen ging – diese Frage drängt sich jedem auf, der «Gelobtes Land» gelesen hat. Weil sein Vater, so Ruge, nach dem Ende des Stalinismus und dem Beginn der Entstalinisierung auf einen freiheitlichen Sozialismus gehofft hatte. In der DDR bekam er einen Arbeitsplatz in der Akademie der Wissenschaften, promovierte bald und wurde 1968 zum Professor berufen. Sein Spezialgebiet wurde die Weimarer Republik. Maßgeblich war er daran beteiligt, der Geschichtswissenschaft der DDR ein neues Genre zu erschließen: Biografien bürgerlicher Persönlichkeiten. Wolfgang Ruge starb 2006 im Alter von 89 Jahren in Potsdam.
III. Eugen Ruge: IN ZEITEN DES ABNEHMENDEN LICHTS
Kurze Randbemerkung: Weshalb sich die Namen der Protagonisten beider Romane von Eugen Ruge mitunter von den Namen im Bericht seines Vaters unterscheiden und auch ihre Geschichten gelegentlich voneinander abweichen, erklärt Eugen Ruge im Epilog von «Metropol» so: «Überflüssig zu sagen, dass die in diesem Buch angeführten Dokumente echt sind. Tatsächlich hat meine Großmutter unter dem Namen Lotte Germaine firmiert. Auch alle anderen Namen – Decknamen, Parteinamen und Klarnamen – sind unverändert geblieben. Bis auf das kleine Figurenensemble, das ich aus meinem Familienroman übernommen habe. Warum? Kurz gesagt: weil ich die wirklichen Personen zu gut kenne. Weil es mir schwergefallen wäre, sie neu zu erfinden, ohne ihnen auch einen neuen Namen zu geben. Denn natürlich sind sie Erfindungen, so wie dieses Buch trotz aller Faktizität eine Erfindung ist.»
«In Zeiten des abnehmenden Lichts» wird aus der Perspektive von vier Generationen erzählt, von 1952 bis zum Beginn unseres Jahrhunderts. Charlotte und Wilhelm (in Wirklichkeit Hans Baumgarten), aufrechte Parteisoldaten, waren nach dem Moskauer Exil (siehe «Metropol») nach Mexiko geflohen, in das Land, in dem auch Anna Seghers oder Alexander Abusch auf den militärischen Zusammenbruch des Nazi-Regimes warteten. 1952 kehrten sie in die noch junge DDR zurück, in das «Land der sozialistischen Verheißung» – in dem noch immer die alte stalinistische Maxime galt: «Wahrheit ist, was uns nützt.» Oder, wie es im Roman heißt: «Der Kommunismus ist wie der Glaube der Azteken: Er frisst Blut.»
Als SED-Kader in der DDR stand Charlotte mit einem Mal wieder im Schatten ihres Mannes Wilhelm, auch wenn ihm – als sogenanntem West-Immigranten – eine Parteikarriere versagt blieb: «Er schenkte Cuba Libre aus, und schon glaubten alle, er kenne Fidel Castro persönlich! Und wenn er Nescafé auf ‹mexikanisch› trank (was nichts anderes hieß, als dass er das Pulver zuerst mit Kaffeesahne anrührte, sodass dann eine kleine Schaumkrone auf dem Kaffee entstand) und dazu eine russische Papyrosse rauchte, war eigentlich allen klar, dass Wilhelm in Mexiko das das sowjetische Geheimdienstnetz aufgebaut hatte. Wenn die wüssten, dachte Charlotte.»
Charlottes Söhne erlebten das «gelobte Land» des Kommunismus von seiner barbarischen Seite. Im Roman übersteht jedoch nur Kurt (Wolfgang Ruge) die Jahre der Gulag-Haft und Verbannung; 1954 kehrt er mit seiner russischen Frau Irina (Taja) und Söhnchen Alexander (dessen biografische Stationen sich in vielem mit denen des Autors Eugen Ruge decken) in die DDR zurück. Der ältere Werner kommt in den berüchtigten Straflagern von Workuta um. Mit Markus, Alexanders Sohn und Exponent der vierten Generation in Ruges Erzählkosmos, reißt in der Zeitenwende von 1989 die Linie der Powileits endgültig ab – wie sich auf drastische Weise an Wilhelms 90. Geburtstag zeigt.
Dieser 1. Oktober 1989 ist der Tag, an dem sich alle Fäden kreuzen. Kurz vor der «Saurierparty» für den hochdekorierten Parteiveteranen meldet sich Alexander: aus dem Auffanglager Gießen. Der Enkel hat «rübergemacht» – ins Lager des Klassenfeinds ... Dass auch die mehr als ein halbes Leben haltende Beziehung zwischen Charlotte und Wilhelm nicht friedlich-versöhnt endet, kann niemanden überraschen, jetzt, wo alles in Trümmer fällt: eine Familie, ein Land, eine politische Idee. Die «rote Linie der sozialistischen Utopie» hat sich im Nirgendwo verloren, «der historische Weg führt aus der Illusion ins Leere, aus der Zukunftsgewissheit in die Ratlosigkeit, von der Anziehungskraft zur Fluchtbewegung» (Süddeutsche Zeitung).
«Das eigentliche Wunder dieses Romans besteht darin, wie er jeder seiner Figuren Gerechtigkeit widerfahren lässt, in einer präzisen, unprätentiösen Sprache, die ganz auf Beobachtung setzt ...», befand der Schriftsteller Michael Kumpfmüller in der «Literarischen Welt». Eine Erzählhaltung, die aufgeht im Ethos der Distanz: «Wenn es etwas gibt, was dem Roman von Eugen Ruge seine bewundernswerte erzählerische Kraft verliehen hat, dann ist es diese Stimmung einer vergnügten Gelassenheit, die manchmal nach überstandenen Katastrophen aufkommt.» (Iris Radisch, Die Zeit)
Drei Bücher, eine einzige Geschichte: Es ist ein großes Leseerlebnis, Eugen Ruges Romane und die Lebenserinnerungen seines Vaters als aufeinander bezogene, ineinander verwobene Teile eines Ganzen zu lesen: als «epochale Familiengeschichte, wie sie nur das 20. Jahrhundert schreiben konnte» (Die Zeit).