Eine junge Frau namens S.H. kommt 1978 aus der amerikanischen Provinz nach New York. «Minnesota», so ihr Spitzname, will Schriftstellerin werden. Sie, das Landkind, genießt den Schmutz, den Glanz, die Hektik, die Einsamkeit in der Millionenstadt. Durch die papierdünnen Wände ihres kleinen Apartments auf der Upper West Side hört sie die Stimme ihrer Nachbarin Lucy Brite. Lucys Gesänge werden immer klagender, verstörender – von Misshandlung ist die Rede, von Gefangenschaft, Kindstod, Mord. Vierzig Jahre später erzählt S.H., mittlerweile eine bekannte Romanautorin und Wissenschaftlerin, was davor und was danach geschah. Sie erzählt von Frauensolidarität und Männerwahn, von Liebe und Geschlechterkampf, Macht und Unterwerfung, Gewalt und Versöhnung.
Sie ist eine Weltenwanderin zwischen Geistes- und Naturwissenschaften: Siri Hustvedt, ausgestattet mit einem Lehrauftrag an der psychiatrischen Abteilung des Weill Medical College in Cornell. Seit langem führt sie ein publizistisches Doppelleben; neben ihrer literarischen Arbeit hat sie sich immer wieder mit bedeutenden Essays zu Wort gemeldet: «Nicht hier, nicht dort», «Being a Man», «Leben, Denken, Schauen», «Die Illusion der Gewissheit». Hustvedt «verkörpert einen Typus der Intellektuellen, der heutzutage eigentlich fast ausgestorben ist. Ursprünglich Dichterin, Romanautorin und promovierte Literaturwissenschaftlerin, hat die 64-Jährige sich zu einer Art Universalgelehrten entwickelt. Romane schreibt Hustvedt weiterhin, doch ebenso viel Zeit widmet sie dem Schreiben über wissenschaftliche und philosophische Themen.» (Katharina Granzin, taz).
«Damals», Siri Hustvedts neuer Roman, bündelt die großen Themen ihrer früheren Arbeiten.
«Komm schon, Minnesota»
«Vor Jahren verließ ich die weiten, flachen Felder des ländlichen Minnesota und zog auf die Insel Manhattan, um den Helden meines ersten Romans zu finden. Als ich im August 1978 dort ankam, war er weniger eine Figur als eine rhythmische Möglichkeit (...). Ich war in New York nicht auf der Suche nach Glück oder Komfort, ich war auf der Suche nach Abenteuern.»
Mit einer Reihe unausgereifter Entwürfe eines Detektivromans stürzt sich S. H. in die Arbeit. Die junge Frau gibt sich maximal ein Jahr, um den Roman zu Papier zu bringen – danach wird sie ihr Studium an der Columbia University beginnen, für das sie ein Stipendium gewonnen hat. New York ist der Ort, von dem sie geträumt hat, seit sie acht war: ein Ort, ebenso real wie imaginär. Das New York dieser Jahre ist verwahrlost und gefährlich, für eine abenteuerlustige Sinnsucherin aber vibrierend und erregend. Stunde um Stunde sitzt sie in der New York Library, verschlingt Buch um Buch, je anspruchsvoller, desto aufregender – «als wäre ich ein Wesen reiner Möglichkeit geworden».
Was sie damals erlebte, erzählt die Protagonistin selbst, vierzig Jahre später. Längst ist sie das, wovon sie immer geträumt hat: eine erfolgreiche Romanautorin und Essayistin. Verheiratet mit Walter, Mutter einer Tochter, Freya. Die ältere S. H. macht sich auf die Suche nach der Frau, die sie damals war. Virtuos verschränkt Hustvedt die Zeitebenen. Im Rückblick montiert ihre Erzählerin Tagebucheintragungen der Jahre 1979 ff. («Liebe Seite») und Teile des Fragment gebliebenen Romans um die Protagonisten Ian und Isadora und die geisterhafte Frieda Frail. Wie verlässlich sind unsere Erinnerungen, wie manipulativ basteln wir uns retrospektive Wunschbiografien zusammen? Immer wieder blitzen zwischen den Zeilen jene Themen auf, denen die Neurowissenschaftlerin Hustvedt auch in ihren Essays nachgeht.
«Du brauchst ein süßes kleines Springmesser»
Die Tagebucheintragungen kreisen obsessiv um die Nachbarin. Was aus dem Apartment 2 C an S. H.s Ohr dringt, ist verwirrend – Beschwörungen in psalmodierendem Singsang. Den Klagesang der Monologe auszublenden, ist unmöglich – die literarische Arbeit gerät ins Stocken. Lucy in ihrer abgrundtiefen Traurigkeit und Einsamkeit wird immer mehr zur Besessenheit. Um kein Wort zu verpassen, presst S.H. ein altes Stethoskop ihres Vaters, des Landarztes, an die Wand. Was sie über Lucy erfährt, ist schwer zu verdauen. Mann: gewalttätig. Sohn: verschwunden. Tochter: aus dem Fenster gestürzt, tot. «Nachts ist es wieder da. Du bist wieder da. Es passiert wieder. Ich kann nicht atmen! Und Lindy ist tot. Das Fenster. Ich sehe den Sturz.»
Als sie die «dichtende Künstlerin» Whitney kennenlernt, ist es für S.H., als sei ihr der Hauptpreis einer Lotterie in den Schoß gefallen. Whitney verdankt sie auch den Spitznamen «Minnesota», der an ihr haften bleibt. Endlich hat sie jemanden, mit dem sie ihr Geheimwissen um die Nachbarin und deren bizarre Freundinnen teilen kann, den «Hexen-Zirkel» mit seiner Leidenschaft für Mond, Magie und Menstruation. Es dauert noch Wochen, bis sie die Frau, die bis dahin nur Stimme war, zum ersten Mal von Angesicht zu Angesicht sieht. Bis zu der Nacht, in der ein dramatischer Zwischenfall in Minnesotas Wohnung Lucy Brite in Person auf den Plan ruft – und nun beginnt ein Geheimnis sich zu lüften …
Das Hexen-Tribunal, der rätselhafte Tod der kleinen Lindy – nicht alle Fäden werden am Ende entwirrt. So lebt die Geschichte noch lange in unseren Köpfen fort.
«Bilder von Gewalt und Aufruhr»
Wie Siri Hustvedt hat sich auch ihre Protagonistin durch Berge wissenschaftlicher und belletristischer Literatur gelesen. Kein Wunder, dass Namen wie Husserl, Popper und Wittgenstein, Bataille, Deleuze und Guattari, Emily Dickinson, Djuna Barnes und Simone Weil, Norman Mailer und Allan Ginsberg fallen. Nichts davon stört den Lesefluss, im Gegenteil: Das ist Siri Hustvedt, deren Poetik in diesem knappen Statement steckt: «Ich schreibe nicht nur, um zu erzählen. Ich schreibe, um zu entdecken.»
Eine bemerkenswerte Referenz gilt der heute so gut wie unbekannten Aktionskünstlerin Baroness Elsa von Freytag-Loringhoven (1874–1924), eine der kreativsten Gestalten der Pariser Left Bank, jener US-amerikanischen Künstlerszene der 1920er, zu der neben Künstlern und Verlegern auch Autoren wie Ernest Hemingway und Henry Miller gehörten. Hustvedt entschlüsselt en detail die Geschichte vom «Aufruhr um ein Urinal, diese Transsubstantiation eines Pinkelbeckens in den Gottvater der Moderne». Die Idee zum legendären Urinal, «Fountain», stammt nicht von Marcel Duchamps, sondern von der Dada-Baroness: «Jahre, nachdem sie gestorben ist, wird sich die Zunge eines Mannes lösen, und er wird ihr Werk als sein eigenes ausgeben ...»
Damit knüpft Hustvedt direkt an ihren Roman «Die gleißende Welt» an. Erzählt wird die Geschichte der Installationskünstlerin Harriet Burden, die zu einem radikalen Experiment greift, weil Frauen in der auf allen Ebenen von Männern dominierten Kunstwelt nur zweite Wahl sind: Harriet findet drei junge Künstler, die ihre Installationen als die eigenen ausgeben – mit riesigem Erfolg, die Kunstszene steht Kopf. Als einer der drei sich entschließt, ihr Werk auch nach Aufdeckung der Finte als sein Werk auszugeben, stürzt sie in eine existentielle Krise.
«It’s a man’s world!» Das Amerika von heute spielt in Siri Hustvedts Roman mehr als nur eine Nebenrolle. Wenn die ältere S. H. konstatiert, diesen Präsidenten interessiere nur «die Größe seines Sieges, die Größe seines Publikums, die Größe seiner Hände, die Größe seines Schwanzes», dann ist klar, wer gemeint ist. «Dies ist das Zeitalter des Hasses. Dies ist das Zeitalter eines starken Mannes, der den Massen seiner weißen Anhänger Obszönitäten über Muslime, Schwarze, Immigranten und Frauen in die Ohren jault.»