Ein Schreibtisch mit Aussicht auf eine weiße Wand, zwei Bambussprossen in einer Vase, ein Aroma-Diffuser, der gleichzeitig als Licht dient – der Ort, an dem Naoise Dolan in ihrer Londoner Wohnung für gewöhnlich schreibt, ist funktional und schlicht. Die irische Autorin möchte das Schreiben nicht mystifizieren. «Ich wollte ein Buch schreiben, also schrieb ich es. (…) Ich war gerade aus dem College raus; es war kein langgehegtes Projekt. Es war wirklich nur ein Versuch», sagt die 28-Jährige in Interviews mit dem Guardian und der Irish Times. In nur fünf Monaten entstand ihr Debütroman «Aufregende Zeiten», der für den diesjährigen Woman’s Prize for Fiction und den British Book Award nominiert ist.
Die Welt sezieren
Es gibt kein richtiges Leben im falschen! Oder doch? In ihrem Debütroman «Aufregende Zeiten» skelettiert die irische Schriftstellerin Naoise Dolan die Gegenwart zwischen den Zeilen, lenkt den Blick auf unterdrückerische Missstände und fordert eine menschlichere Welt.
Zynische Liebe
«Aufregende Zeiten» erzählt von der 22-jährigen Ava, einer linken Feministin, die nach ihrem Studium aus der Enge Dublins nach Hongkong flieht. Dort arbeitet sie als Englischlehrerin, lernt den Londoner Banker Julian kennen, zieht in sein Gästezimmer. Eine merkwürdig distanzierte, zynische Beziehung beginnt, in der Ava Gedanken kommen wie: «Manchmal liebe ich dich, und manchmal glaube ich, es wäre das Beste, wenn ein Flugzeug in dein Büro krachen würde und du wärst im Flugzeug oder im Gebäude.»
Eine Beziehung, die ihre Grundwerte ins Wanken bringt. Ava: «Bei ihm zu wohnen brach wahrscheinlich mit der kapitalistischen Vorstellung, dass ich nur einen Wert hatte, wenn ich meinen Lebensunterhalt selbst bestritt. Oder vielleicht machte es mich auch zu einer schlechten Feministin.» Als Ava der Hongkonger Anwältin Edith Zhang begegnet, eröffnet sich ihr eine bisher unbekannte Welt emotionaler Tiefe. Ava: «Ich kenne sie seit zwei Monaten, und es fühlt sich an, als wäre sie der einzige Mensch, der je in meinem Leben existiert oder mir etwas bedeutet hat.»
Queeres Vorbild
Die Geschichte von Avas Taumeln durch ihre äußere und innere Welt, ihrem Hadern mit gesellschaftlichen Missständen, ihren zynischen Haltungen, ihrer Zärtlichkeit und ihrem leidenschaftlichen Hin und Her zwischen zwei Menschen, schrieb Naoise Dolan 2017 in Hongkong auf, wo sie als Englischlehrerin arbeitete. «Ich schrieb ‹Aufregende Zeiten› im Bett, in Cafés während meiner Mittagspause, auf dem Weg zur Arbeit oder beim Spazierengehen als Notiz in mein Telefon. Ich mag es, überall schreiben zu können», sagt Naoise Dolan.
Eine Persönlichkeit, die ihr Leben und ihre schriftstellerische Arbeit besonders beeinflusste, ist Oscar Wilde, der genau wie sie in Dublin zur Welt kam. «Als ich klein war, lehrten mich seine Kindergeschichten, die Grundlagen des Schreibhandwerks und des Erzählens. Als Teenager entdeckte ich seine Theaterstücke und ‹Das Bildnis des Dorian Gray›, hörte von seinem Aufstieg und Fall im homophoben Großbritannien. Ich verschlang alles, was er geschrieben hatte. Es war meine allererste Begegnung mit einem schwulen Autor», sagt Dolan, die nach einem Englisch-Studium am Dubliner Trinity College ihren Master in Viktorianischer Literatur in Oxford machte.
Tiefe Verbindung
Literatur und ihr eigenes Schreiben ermöglichen Dolan eine direkte und unverstellte Verbindung mit der Welt und den Menschen. «Die Natur dieser Verbindung besteht darin, dass ich etwas aus dem Nichts erschaffe und andere Menschen bereit sind, sich damit zu beschäftigen. Das fühlt sich für mich sehr besonders an, weil ich auf diese Weise meine Vorstellungskraft teilen kann – und das ist etwas, das ich normalerweise als sehr privat empfinde», sagt Dolan.
Was ihr Schreiben spürbar beeinflusst, ist auch ihre ausgeprägt analytische Art zu denken. Kurz nach der Erstveröffentlichung ihres Buchs wurde Dolan als autistisch diagnostiziert, eine Tatsache, die sie vor allem erleichterte. «Ich habe einen großen Teil meines Lebens damit verbracht, meinen Autismus intensiv zu verbergen», sagt Dolan. Ihre Außenwelt nehme sie zwar als hochfunktional wahr, doch Dolan ist seit ihrer Kindheit in sozialen Situationen vor allem damit beschäftigt, sich anzupassen.
Ihre analytische Herangehensweise an das Leben ist für sie Resultat dieser Erfahrungen, die sich auch in ihrer schriftstellerischen Arbeit zeigen. In einem Interview mit dem Radiosender NPR sagt Dolan: «Das Sezieren sozialer Interaktionen und emotionaler Hintergründe ist etwas, womit ich mich tagtäglich beschäftige (…).» In «Aufregende Zeiten» macht Dolan genau das. Sie führt ihren Leser*innen die Widersprüche menschlichen Verhaltens vor Augen, verdeutlicht gesellschaftliche Missstände in den scharfzüngigen Dialogen ihrer Figuren.
Schöne andere Welt
«Wir wissen so wenig darüber, welche Merkmale unserer Gesellschaft angeboren und welche konditioniert sind. Vielleicht würden wir in einer weniger unterdrückerischen Welt dennoch die gleichen Entscheidungen treffen», sagt Dolan. Sie ist vor allem daran interessiert, unsere Welt zu hinterfragen, sie nicht als gegeben hinzunehmen und zu verdeutlichen: «Unsere Gegenwart ist nicht die zwangsläufige und einzige Version von Realität.» Dolan will die vielen Missstände der Welt nicht als gegeben hinnehmen – nicht in ihren Büchern und auch nicht im realen Leben. In der Danksagung zu «Aufregende Zeiten» schreibt Dolan: «Jede:r hat es verdient Bücher zu schreiben, wenn er:sie möchte. In einer Welt, in der Milliardär:innen existieren, wird so etwas nie möglich sein, in einer menschlichen schon; danke an alle, die daran arbeiten und sich darum kümmern, dass wir irgendwann dorthin gelangen»
Was ihr in dieser Welt noch Hoffnung gibt? «Solidarität. Das sind manchmal kleine Momente und manchmal große. Wir müssen daran glauben, dass sich darauf aufbauen lässt.»
Aufregende Zeiten
Eine beißend komische, zeitgenössische Beziehungsgeschichte, zärtlich und einfühlsam erzählt.
«Aufregende Zeiten» spielt im Hongkong der Gegenwart und erzählt die Geschichte einer Dreiecksbeziehung zwischen zwei jungen Frauen und einem Mann.
Ava ist 22 und hat keine Ahnung, was sie mit ihrem Leben anstellen soll.
Doch dann trifft sie Julian. Einen Banker. Einen Banker, der gerne Geld für sie ausgibt. Und plötzlich findet sie sich im Gästezimmer seiner Wohnung wieder und trinkt Clos Vougeot, spricht über schwankende Kurse und hat Sex. Ihre Einkommensunterschiede sind groß, und sie bewahren die selbsternannte Linke und Feministin Ava vor unangenehmen Fragen. Oder macht es sie vielleicht zu einer schlechten Feministin, dass er für alles zahlt?
Das wird sie herausfinden, sobald es vorbei ist. Julian verreist für längere Zeit – und Edith tritt auf den Plan. Edith, die ihr zuhört, wenn sie spricht, und ihr Freesien und Tulpen schenkt. Aber dann kehrt Julian doch unerwartet nach Hongkong zurück ...
«Aufregende Zeiten» ist der wilde, intelligente Debütroman einer dezidiert politischen Autorin, die über Beziehungsdynamiken, Machtfragen, finanzielles und
emotionales Kapital nachdenkt, ohne sich dabei irgendwelchen Tabus zu unterwerfen. Das Debüt einer jungen Stimme, die laut, deutlich und sehr besonders ist.
Worum geht es?
Die 22-jährige Ava, eine linke Feministin, flieht nach ihrem Studium aus der Enge Irlands nach Hongkong, um dort als Englischlehrerin zu arbeiten. Dort trifft sie auf den Banker Julian. Eine zynisch distanzierte Beziehung beginnt, die ihre eigenen Werte ins Wanken bringt. Als die Hongkonger Anwältin Edith in Avas Leben tritt, beginnt ein leidenschaftliches Taumeln zwischen zwei Menschen, die sie liebt und manchmal auch hasst. Ein besonderes Debüt, eine Beziehungsgeschichte mit wunderbar giftigen Gedanken.
Warum ist es so lesenswert?
Naoise Dolan lässt ihre Protagonistin Ava einen Spiegel in die Gegenwart halten – scharfe, sezierende Beobachtungen menschlichen Verhaltens und gesellschaftlicher Entwicklungen fließen ein in schonungslos scharfzüngige Gedanken oder Dialoge. Als Leser:in taumelt man mit der Protagonistin – zwischen Szenenapplaus für besonders giftige Wortwechsel und dem punktuellen Wunsch, Ava wachzurütteln.