Ihre neue Saga beginnt in den 1920er Jahren. Was finden Sie an dieser Ära besonders spannend?
Diese Zeit ist gesellschaftlich und auch politisch sehr interessant. Der erste Versuch einer Demokratie mit mehr Freiheiten, was viele gesellschaftliche Auswirkungen hatte: eine vielfältige Presse, eine aufblühende Kunst- und Kulturszene, sexuelle Befreiung auch für Randgruppen, die zu einem faszinierend vielfältigen Nachtleben führte. Ein Schub in den Wissenschaften und auch in der Emanzipation. Die studierende oder arbeitende Frau war nicht mehr nur eine Exotin. Berlin gehörte plötzlich zu den Städten in Europa, die man besucht haben musste. Sie hatte das steif-preußische Image abgestreift.
Drei junge Frauen stehen im Mittelpunkt – was unterscheidet sie voneinander?
Auf ihre Art versuchen alle drei aus der traditionellen Frauenrolle auszubrechen, der Unterschied besteht darin, wie sie es anfangen, wie weit oder radikal sie gehen und auch vor welchem familiären und auch gesellschaftlichen Hintergrund. Ilse und Luise haben es in ihrer gehobenen und auch finanziell abgesicherten Familie in mancher Beziehung einfacher als das Arbeiterkind Ella. Anderseits war es in dieser Schicht bereits normal, dass Frauen arbeiten. Ein uneheliches Kind war zwar auch ein Stigma, kam aber häufiger vor und führte nicht zwangsläufig zum gesellschaftlichen Absturz, wie es in einer bürgerlichen Familie noch immer passieren konnte. Ilse ist lesbisch. Die 1920er waren zwar die Zeit, in der abweichende sexuelle Orientierungen in der Gesellschaft von Intellektuellen und Künstlern akzeptiert wurde, in bürgerlichen Familien oder auch bei Arbeitern noch lange nicht. Daher hat Ilse auch mit ihrer Familie Probleme, hauptsächlich mit dem Vater. Luise dagegen versucht die Vorherrschaft der Männer innerhalb der Ehe und Familie neu zu gestalten und muss mit Robert harte Kämpfe ausfechten.
Gibt es eine, deren Schicksal Ihnen besonders am Herzen liegt?
Ich mag Ella sehr. Sie hat die schlechtesten Startchancen und so viele Kampfplätze: die demente Mutter, ein uneheliches Kind, eine unerfüllte Liebe, einen kriminellen Bruder, aber sie gibt nie auf, und schafft es, ihren Sohn aufzuziehen. In den schweren wirtschaftlichen Zeiten ist sie bereit, alles für ihr Kind zu geben. Und dann gelingt es ihr auch noch von ganz unten wieder in einem bürgerlichen Beruf Fuß zu fassen und dazu in bessere Wohnverhältnisse zu gelangen, raus aus der Welt der Hinterhöfe.
Welche Gefühle haben die Frauen damals vor allem geprägt?
Was sich mehr oder weniger durch alle Zeiten zieht, ist der Wunsch der Frauen, ihren Lebensweg selbst gestalten zu dürfen. In den 1920er war die Zeit der arrangierten Ehen in Deutschland vorüber, dennoch gab es natürlich Vorstellungen der Familie und einen gewissen Druck, in die richtige Schicht einzuheiraten. Die Berufswahl war noch eingeschränkt. In den 1920ern wurden erstmals Juristinnen zum Examen und damit zum Anwalts- und Richteramt zugelassen. Die Möglichkeit, Politik selbst zu gestalten, war erstmals gegeben, aber eben noch sehr beschränkt. Es waren aber auch Gefühle und Wünsche, die uns heute noch prägen: die Suche nach Liebe und Selbstbestimmung.
Der Bahnhof Friedrichstraße spielt im Buch eine dramatische Rolle – was verkörpert er für Sie?
Der Bahnhof ist der Ankerpunkt, der sich selbst als Spiegel dieser Zeit weiterentwickelt und den Hintergrund für meine Figuren bildet, die sich immer wieder an diesem Ort treffen oder einschneidende Dinge erleben. Der große Bahnhof ist das Symbol für den Fortschritt dieser Zeit, die zunehmende Geschwindigkeit, die Mobilität der Menschen, die Veränderung der Arbeitswelt und dann auch für den Übergang in die NS-Zeit mit ihren Massenversammlungen und Aufmärschen und, mit der Zerstörung von Johannes‘ Kiosk, für die Intoleranz gegenüber Juden und ihrer Verfolgung durch die Nazis.
Ihr Roman ist auch eine Spurensuche – konnten Sie während Corona überhaupt wie gewohnt recherchieren?
Leider nein. Ich bin sonst immer an den Spielorten der Geschichten unterwegs und versuche die Atmosphäre der Orte einzufangen. Es gibt auch in Berlin schöne Führungen zu diesem Thema und zu den Dreh- und Spielorten von «Babylon Berlin», das ja in dieser Zeit angesiedelt ist. Aufgrund von Corona habe ich dieses Mal auf die Reisen verzichtet und mich auf Berichte in Büchern, Zeitschriften und im Internet konzentriert, habe viele Telefonate geführt und meine Lektorin, die in Berlin lebt, losgeschickt. Sie hat mir viel geholfen. So ging es für dieses Buch, für den zweiten Band jedoch möchte ich unbedingt wieder selbst in Berlin unterwegs sein.
Sie selbst leben in der Nähe von Pforzheim – was gefällt Ihnen an Berlin?
Mit Pforzheim verbindet mich nichts. Ich bin in dem schönen, mittelalterlichen Städtchen Schwäbisch Hall aufgewachsen. Seit zwanzig Jahren jedoch wohne am Rand eines kleinen Dorfes in der Natur mit Garten direkt am Waldrand. Das gibt mir die Umgebung, in der ich gerne lebe und arbeite. Berlin ist für mich die Vielfalt, die Kultur, das Nachleben, die rastlose Stadt, in der sich meine Figuren bewegen, entwickeln und ihren Platz finden. In den Dörfern und kleinen Städten auf dem Land hat sich auch in den 1920er Jahren nicht allzu viel verändert.
Ihre Charité-Saga ist ein Riesen-Bestseller – hat Sie der Erfolg verändert?
Nein. Natürlich habe ich mich gefreut, dass ich es nach längerer Pause wieder einmal in die Bestsellerliste geschafft habe. Es ist leichter, für meine Recherchen begeisterte Menschen zu finden, die ihr Wissen mit in meine Geschichten einbringen wollen, wenn sie bereits Bücher von mir kennen oder ihnen mein Name und Buchtitel ein Begriff sind.
In Ihren Romanen wehren sich Frauen gegen Zwänge und Bevormundung – was können wir uns heute bei ihnen abgucken?
Niemals aufgeben! Es ist ein langer Weg und es wird vermutlich nie aufhören, zumindest wenn man den Blick auf alle Länder der Erde lenkt. In so vielen ist bei den Frauenrechten erst wenig geschehen. Wir Frauen in den westlichen Ländern sind da schon sehr viel weiter. Allerdings finde ich, dass der Weg nicht über zu viele Verbote und Quoten gehen sollte. Klar muss am Anfang in jedem Land die rechtliche Grundlage der Gleichberechtigung stehen, aber dann geht es nur durch Überzeugung und mit den Männern zusammen, indem wir die gleichen Rechte immer wieder einfordern und es der nächsten Generation vorleben, damit bei Kindern nicht alte Vorstellungen und Rollenmuster verfestigt werden.