Der Psychologe Dr. Leon Windscheid begibt sich auf eine bewegende Reise durch unser Innenleben. Gefühle bestimmen unser Leben, und doch wissen wir wenig über sie. Hat Angst auch eine gute Seite? Gibt es sie, die ewige Liebe? Wofür brauchen wir eigentlich Langeweile? Windscheid verbindet überraschende wissenschaftliche Erkenntnisse mit Einsichten aus Tausenden Jahren Menschheitsgeschichte. Er zeigt, was gerade starke Emotionen wie Trauer und Wut so wertvoll macht und wie sie uns als Menschen helfen. Am Ende gewinnen wir ein neues Bild von uns selbst und verstehen, wieso Fühlen unsere größte Stärke sein kann.
Wikipedia stellt Sie knapp als «bundesdeutschen Unternehmer» vor, obwohl Sie doch eine ganze Menge mehr sind: Psychologe, promovierter Wirtschaftswissenschaftler, Buchautor, Keynote-Speaker, Podcaster, Science-Slammer, Juror, Kapitän der MS Günther etc. Wie schaffen Sie es, all das unter einen Hut zu kriegen – zeitlich, mental, emotional?
Es ist gut möglich, an die eigenen Leistungsgrenzen zu gehen, wenn man es schafft, für einen Ausgleich zu sorgen. Das mache ich ganz bewusst. Für mich gibt es nichts Schöneres, als am Wochenende aufs Fahrrad zu steigen und in die Münsteraner Rieselfelder zu fahren – ein Vogelparadies und Naturschutzgebiet, wo dann wirklich nichts ist als man selbst und die Natur. Das erdet mich komplett, hier kommen meine Gedanken zur Ruhe. Ich brauche solche Phasen, in denen in meinem Kopf mal gar nichts passiert. Damit sich all das, was aufgewirbelt wurde, setzen kann. Kurz: tiefruhige Momente, in denen all das einsortiert, verarbeitet und vor allem verstanden wird, was wir aus der Welt mitgenommen haben. Solche Inseln schaffe ich mir ganz bewusst.
Ihr Buch «Besser fühlen» ist eine Einladung zu einer Reise durch zehn unterschiedliche Gefühlslandschaften: Angst, Verliebtsein, Zeitgefühl, Wut, Hunger, Selbstmitgefühl, Trauer, Langeweile & Geduld, Leidenschaft, Glück. Was macht Gefühle zu unserer größten Stärke?
Der Mensch definiert sich über seine Intelligenz, deswegen nennen wir uns Homo sapiens, der weise Mensch. Es war dieses Mehr an IQ, wovon wir dachten, dass uns das von allem und allen anderen absetzt. Seit 300.000 Jahren standen wir evolutionär immer ganz oben an der Spitze. Doch seit wenigen Jahren überholen wir uns mit unserer Technologie selbst. Wir haben Maschinen geschaffen, die so schlau, so smart sind, dass wir nicht mehr allein auf dem Intelligenzthron sitzen. Das macht mächtig Druck, und der Druck wächst. Denn wir wollen mithalten, wollen immer mehr Leistung liefern und Energie aus unserem Kopf pressen, um mit den künstlichen Intelligenzen mitzuhalten.
Wenn wir uns bewusst machen, dass es in Wirklichkeit nicht unsere Intelligenz ist, die uns einzigartig macht, sondern die große Bandbreite unserer Gefühle, bleiben wir einzigartig. Es ist selbst in den kühnsten Fantasien der Technikjünger einfach unvorstellbar, dass eine Maschine Mitgefühl empfindet, dass ein Roboter Empathie zeigt oder dass ein Algorithmus versteht, was Liebe ist. Wir hingegen können alle diese Emotionen empfinden und für uns selbst und im sozialen Miteinander nutzen. Die größte Stärke der Gefühle ist, dass sie uns Menschen so einzigartig macht.
Im Kölner Talk bei Bettina Böttinger haben Sie auf den Dauerclinch zwischen dem Hier-und-jetzt-Selbst und dem Zukunfts-Selbst hingewiesen. Ein Stichwort war da: Wir müssen den sprichwörtlichen Geduldsfaden spinnen. Ist Geduld erlernbar?
Geduld erscheint uns erst einmal nicht als Gefühl, sondern als eine Fähigkeit. Doch das ist nicht ganz korrekt. Denn wenn wir an Ungeduld denken, ist sofort klar, dass das ein Gefühl ist. Wir fühlen uns ungeduldig, wenn wir an der Kasse warten müssen oder einen Tag länger als angekündigt auf ein Paket. Genauso ist es mit der Geduld: Wir spüren sie. Denn wie andere Gefühle auch können wir die Geduld trainieren, wie einen Muskel. Indem wir ihn benutzen, wird der Geduldsfaden in unserem Kopf zu einem dickeren, strapazierfähigeren Strang. In vielen Köpfen ist offensichtlich der Geduldsfaden gerissen. Wir leben in einer Now-Economy – wir wollen alles im Jetzt, im Hier, im Sofort. Aber gerade die langfristigeren Ziele und die komplexeren Probleme brauchen oft den langen Atem, das Durchhaltevermögen, die Marathonmentalität. Dieser «Geduldsmuskel» bekommt ein kleines Workout, indem ich die kleinen Geduldsproben des Alltags akzeptiere und mich nicht ablenke, indem ich über ein Handy wische oder mich in irgendeine Wut hineinsteigere. Das macht mich für die Langstrecke geduldiger – aus meiner Sicht eine wichtige Gefühlskompetenz.
Die komplexe Intelligenz als Alleinstellungsmerkmal unserer Spezies wird uns von immer smarteren KI-Maschinen streitig gemacht. Sie sagen, etwas zugespitzt: Dummheit ist unsere Chance, «try being stupid». Ein bisschen «stupid» zu sein – was bringt uns das in der globalisierten digitalen Moderne?
Die Zukunft der Menschheit liegt auch in der Vergangenheit. Wenn wir verstehen, wo wir Menschen herkommen, verstehen wir auch, wo unsere Zukunft liegen könnte – weil wir erkennen, was uns wirklich ausmacht. Sehr vieles von dem, was wir heute als «dumm» bezeichnen, weil es auf den ersten Blick nicht rational ist und nicht in unsere IQ-Gesellschaft passt, ist trotzdem etwas extrem Wichtiges – ob es sich um die Angst vor einer Rede handelt, um Liebeskummer nach einer Trennung oder schallendes Lachen über einen simplen Witz. Gerade auch die negativen Gefühle, die wir gerne verdrängen möchten und die uns «dumm» vorkommen, bringen uns in unserer Entwicklung voran. Deswegen ist ein bisschen «stupid» sein auch sehr menschlich, weil: Maschinen sind niemals dumm.
Können Psycho-Apps (zu Gehirnjogging, Glückscoaching etc.) uns helfen, aus dem Hamsterrad von Hirnstress und Selbstoptimierung herauszukommen? Oder ist dieser ständige Wunsch nach Upgrading nicht genau das Problem?
Ich sollte mich immer fragen, warum ich diese App benutze. Denn wenn ich eine Achtsamkeits-App nutze, um meine Leistung zu pushen, meine Performance zu steigern, dann mache ich das Gegenteil von dem, worauf diese App abzielt, nämlich auf eine ehrliche Betrachtung meiner selbst. Ich soll mich so verstehen, wie ich wirklich bin. Ich möchte auch die schlechten Gefühle annehmen und zulassen. Deswegen würde ich bei diesen Apps immer zuerst fragen, um was es mir geht. Bei Gehirnjogging-Apps zeigt sich, dass sie uns genau in dem Bereich besser machen, den wir trainieren (Sudoku lösen, Zahlenreihen etc.); aber das heißt nicht, dass man sich im Alltag Dinge besser merken kann. Apps, bei denen es um Achtsamkeit, um Meditation geht, darum, in dieser hektischen, gestressten Welt zu uns zu finden und aus dem inneren Hamsterrad rauszufinden, haben absolut ihre Daseinsberechtigung.
Wie finden wir zur Ruhe? Können wir überhaupt noch Langeweile und Alleinsein ertragen? Lassen wir uns Zeit zu trauern? Es sind viele existenzielle Fragen, die in Ihrem Buch aufgeworfen werden. Müssen wir nun alle in Therapie – oder kann es uns in Eigenregie gelingen, «besser zu fühlen»?
Jeder dritte Deutsche erfüllt einmal im Jahr die Kriterien einer psychischen Störung; nur ein Bruchteil dieser Menschen holt sich Hilfe (oder versucht es, weil man oft Monate auf einen Therapieplatz warten muss). Das heißt, unser Gesundheitssystem ist komplett auf Kante genäht. Es wäre fatal, wenn alle zur Therapie rennen würden. Das würde denen schaden, die wirklich auf dem Zahnfleisch gehen und am Ende sind. Trotzdem gilt, dass wir bei psychischen Problemen viel zu lange warten, weil das noch immer für viele ein Tabuthema ist. Wir rennen permanent zum Zahnarzt, auch wenn wir nichts haben: zur Kontrolle, zur Vorsorge. Wir machen Sport, um für unseren Körper was zu tun. Wann aber tun wir etwas für unsere Psyche, wann spendieren wir uns so etwas wie Psychohygiene – jenseits von Therapie oder Krankenschein? Man kann einiges für sich tun, auch ohne sich direkt in Therapie zu begeben. Vielleicht gibt mein Buch «Besser fühlen» da eine Reihe wichtiger Impulse.