Ein Mädchen reist 1992 mit den Eltern, der Großmutter und ihrem Bruder aus Sankt Petersburg nach Deutschland aus, in die Freiheit. Im Westen merkt die Elfjährige, dass sie jetzt eine andere und «die Fremde» ist. Ein Flüchtlingskind im selbstgeschneiderten Parka, das die Wörter so komisch ausspricht, dass andere lachen. Auch für die Eltern ist es schwer im Sehnsuchtswesten, und die stolze Großmutter, die mal einen Betrieb leitete, ist hier einfach eine alte Frau ohne Sprache. Das erst fremde Deutsch kann dem Mädchen helfen – beim Erwachsenwerden, bei der Eroberung jenes erhofften Lebens. Aber die Vorstellungen, was Freiheit ist, was sie erlaubt, unterscheiden sich zwischen Eltern und Tochter immer mehr. Vor allem, als sie selbst eine Familie gründet und Entscheidungen treffen muss.
Wie sehr hat das Schreiben dieses Buches geholfen, die russisch-jüdisch-deutschen Facetten Ihres Lebens zu sortieren, einzuordnen und biographisch zu gewichten?
Ich glaube, ich habe nicht sortiert und nicht eingeordnet. Ich habe mehr: verstanden und mitgefühlt. Andere Perspektiven gesehen, mich gesehen, angenommen, vielleicht, auch wenn das groß und pathetisch klingt, Frieden geschlossen. Habe mehr gesehen als zuvor und mich wahnsinnig darüber gefreut.
Sie sind 1992 als Elfjährige aus Sankt Petersburg nach Deutschland gekommen. «Ich gab mir Mühe, so zu sein, wie sie mich sahen. Dann gab ich mir Mühe, so zu sein, wie ich nicht war, jetzt bin ich zu müde, um mir Mühe zu geben.» Wie haben Sie den enormen Anpassungsdruck ausgehalten, dem Sie im «Sehnsuchtswesten» ausgesetzt waren?
Ausgehalten habe ich ihn nicht, ich habe ihm nachgegeben. Habe alles getan, um zu entsprechen, um nicht als «fremd» oder «anders» konnotiert zu werden. Habe mir die Frage nicht erlaubt, was da noch von mir steckt. Bin unglücklich darüber geworden, was denn sonst. Habe Abstand gebraucht, um das zu erkennen.
Onkel Ljowa, der «ins Wasser gegangen» ist; die geliebte Hündin Asta, die in Sankt Petersburg zurückgelassen wird; die Ingenieursdiplome der Eltern, die in Deutschland nichts mehr wert sind; die vielen kleinen Demütigungen eines Lebens im «Asylantenheim» («Privatsphäre ist hier kein Luxus, es ist noch nicht einmal ein Wort»). War Ihnen bewusst, dass Sie über all das irgendwann einmal schreiben würden?
Nein. Ja. Beides auf einmal, manchmal. Im Nachhinein denke ich, ich wusste es und wollte es nicht sehen, aber vielleicht ist das nur in der Retrospektive so. Vieles hat sich schon früher im Schreiben an die Oberfläche und in die Erzählungen geschlichen, aber dass ich irgendwann so offen, so beinahe fraglos schreiben würde, hat mich selbst überrascht.
Hinreißend finde ich die Passagen, in denen es um den wärmenden Klang russischer Wörter geht. Und um die ganz andere Sprache der neuen Heimat, die Sie eingesogen haben: «Ein Wort nach dem anderen, auf der Zunge gekostet, geschmeckt, gefaltet, abgelegt, zum sorgfältig ausgesuchten Zeitpunkt hervorgeholt wie ein schönes Kleidungsstück zu Feiertagen.» Denken, fühlen, träumen Sie eigentlich in beiden Sprachen?
Ich denke auf Deutsch, ich zähle auf Russisch, ich fühle in beiden Sprachen, bis die Gefühle groß werden, dann werden sie Russisch, und ich habe nicht die geringste Ahnung, in welcher Sprache ich träume.
Gibt es für Sie so etwas wie eine spirituelle Bindung an das Judentum? Wie weit weg – oder wie nah – ist heute das Jüdische für Sie: in Ihrem Alltag, Ihren Erinnerungen?
Es kommt auf den Tag, die Zeit, den Ort an. Manchmal ist es präsent – aufgrund politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen, aufgrund von Themen, die mich beschäftigen, und manchmal, schlicht, aufgrund von Feiertagen; dann wieder spielt es über Tage und Wochen keine Rolle. Das Jüdische macht sicher einen großen Teil von mir aus, aber er ist nicht immer laut.
Ihr Buch «Wer wir sind» ist vielleicht das schönste Geschenk, das Sie Ihrer Familie, Ihren Kindern machen können. War Ihrer Familie in den letzten zwei, drei Jahren eigentlich bewusst, dass sie gerade zu Literatur wird?
Nein. Meine Kinder haben mich schreibend gesehen – das ist aber ein Anblick, an den sie gewohnt sind. Und meinen Eltern habe ich mich ganz lange nicht getraut, das zu sagen, wie macht man das auch: «Ach, übrigens, ich schreibe ein Buch über euch.» Ich wollte, dass sie die Worte lesen, weil ich keine hatte, um ihnen zu erklären, was ich da schreibe.
In einem Interview haben Sie einmal vom Reiz des Pippi-Langstrumpf-Gefühls gesprochen: «Dass man sich unterscheiden darf, dass man, übertragen gesehen, einfach zwei verschiedenfarbige Strümpfe tragen kann, dass das vollkommen in Ordnung ist.» Ist es das, was Ihnen das literarische Schreiben gibt?
Nein. Oder mehr als das. Es ist das Gefühl, Welten erfahren, mit Sprache spielen, mich selbst anders kennenlernen zu dürfen. Es ist, als gäbe es durch das Schreiben mehr als das Jetzt.