Womit man auf der Großen Freiheit in Hamburg wohl am wenigsten rechnet, ist eine katholische Kirche. Auf St. Pauli, wo es neben viel buntem Licht auch jede Menge Schatten gibt, finden Menschen nicht unbedingt den Weg in den Gottesdienst; also sucht Pfarrer Karl Schultz sie da auf, wo sie sind. Und weil er Pfarrer ist und kein Polizist, vertrauen sich ihm auch jene an, die nicht allzu viel mit der Kirche am Hut haben. Das war schon so, als Schultz noch evangelischer Diakon in Rostock war. Vor über 20 Jahren konvertierte er zum katholischen Glauben und ist jetzt angekommen – auf dem Kiez, bei den Menschen.
Zwischen Rotlicht und Blaulicht
Im Gespräch: Kiezpastor Karl Schultz, «unser Geheimrat für Kirchenfragen» (Udo Lindenberg)
DAS INTERVIEW
Die Hamburger Morgenpost nannte Sie den Chef des «größten Klubs auf der Großen Freiheit»: der St.-Joseph-Kirche. Um dorthin zu kommen, mussten Sie vom evangelischen zum katholischen Glauben konvertieren. Auch wenn es für Sie «kein Damaskus-Erlebnis» gab: Wie schwer ist Ihnen dieser Schritt gefallen?
Er ist mir eigentlich gar nicht schwergefallen. Natürlich gab es eine Phase des Abschieds; aber die würde ich damit vergleichen, wenn jemand den Ort wechselt und umzieht. Abschiede sind immer auch schmerzhaft. Was meine Konversion angeht, betrachte ich die evangelische Kirche, meine Herkunftskirche, und meine Zukunftskirche, die katholische, als geistliche Räume. Und in diesen Prozess bin ich ja auch nicht hineingestolpert; manche Dinge im Leben bereiten sich untergründig vor. Schon als Jugendlicher in der DDR hatte ich intensiven Kontakt zur katholischen Gemeinde im mecklenburgischen Wittenburg. Da saßen ohnehin beide Kirchen gefühlt in einem Boot – die evangelischen und katholischen Christen waren absolut in der Minderheit. In der kirchlichen Jugendarbeit haben wir eng zusammengearbeitet. Mit einem der Kapläne in Wittenburg habe ich mich angefreundet, übrigens der jetzige Weihbischof von Hamburg. So habe ich früh schon die Lebensform katholischer Priester kennengelernt – und war davon begeistert.
Wie war das nach der Wende?
Als DDRler konnten wir ja nicht reisen. Nach der Wende 1989 bin ich dann mit Jugendlichen aus Mecklenburg häufig nach Taizé in der Nähe von Cluny gefahren. Dort habe ich die Universalität der katholischen Kirche erlebt, was man in den evangelischen Landeskirchen so nicht kennt. Das war eine Erkenntnis in dieser Communauté de Taizé: dass die katholische Kirche eine Weltkirche ist. Das zeigt sich heute übrigens auch in meiner Gemeinde auf dem Kiez, wo Menschen aus über vierzig Nationen zusammenkommen. Letztlich lief alles auf die Erkenntnis hinaus, dass ich zur katholischen Kirche nicht in einer Art spiritueller Parallelstruktur leben muss. Da konnte ich auch gleich das Original nehmen, deshalb meine Konversion zum Katholizismus. Die habe ich aber nie als Protest verstanden – ich bin einfach in den nächsten größeren geistlichen Raum gegangen. Explizit theologische Gründe für eine Konversion gab es nicht.
Die kirchlichen Räume waren für viele Menschen Vertrauensräume, Schutzräume, in denen frei und unzensiert gesprochen werden konnte.
Haben Sie viel von dem, was Sie in Ihrer DDR-Sozialisation erlebt und erfahren haben, auf Ihren Weg in die seelsorgerische Arbeit mitgenommen?
Ja, unbedingt. Ich war viele Jahre in der ökumenisch geprägten evangelischen Jugendarbeit tätig. Wir hatten viel mit jungen Leuten zu tun, die in der DDR den Wehrdienst mit der Waffe abgelehnt haben und dann Bausoldaten waren. Die kirchlichen Räume waren für viele Menschen Vertrauensräume, Schutzräume, in denen frei und unzensiert gesprochen werden konnte. Erinnern Sie sich daran, dass nach der Wende viele Ossis in die Talkshows geholt wurden? Auffallend war, dass viele ihre Sätze mit der Floskel «Um ehrlich zu sein ...» begannen. Das war schon auffallend, und das sprach für sich. Auch das mussten wir in den Jahren nach 1989 lernen: unbeschwert offen und ungefiltert auszusprechen, was man dachte.
Wenn ich heute als Pastor auf dem Kiez unterwegs bin, kann ich an viele Erfahrungen anknüpfen – weil ich auch hier vielen begegne, die, wie in der DDR, über keinen kirchlichen Background verfügen. Denen ich auch nicht mit einer «binnenkirchlichen» Sprache kommen kann, sondern nur mit einer Sprache, die verstanden wird und die weder anbiedernd ist noch die Inhalte verwässert, die mir wichtig sind. Ich verstehe mich als «Übersetzer», etwas, was ich in meiner DDR-Zeit gelernt habe. Das ist nicht immer leicht. Aber es darf nicht sein, dass wir in unserer Gesellschaft immer unfähiger werden, miteinander zu sprechen, weil wir uns in unseren Denk-, Gefühls- und Sprachräumen verschanzen. Reden müssen wir, auch wenn wir zu keinem Konsens finden. Das gilt auch auf dem Kiez.
Sie gelten als ein Pfarrer, der keine Berührungsprobleme mit dem bunten Völkchen auf der Reeperbahn kennt, der «Sprechstunden» in Kneipen abhält und mit dem Panikorchester auf Tournee geht. Worin besteht für Sie Udo Lindenbergs Faszination?
Die Freundschaft mit Udo ist eine meiner bereicherndsten Erfahrungen. Viele in der Öffentlichkeit verkennen Udo Lindenberg. Udo ist weit mehr als der Superpopstar – der er natürlich auch ist. Allein seinen ungeheuer kreativen Umgang mit Sprache finde ich beeindruckend. In den letzten ein, zwei Jahrzehnten haben seine Liedtexte eine solche Tiefe gewonnen; die Bilder, die er in seiner Malerei malt, die malt er auch in seiner Sprache. Einige seiner Songs haben einen dramatischen, manchmal tragischen Hintergrund. Aber mit welcher Leichtigkeit er das rüberbringt, wie spielerisch und zart das Schwere da klingt! Hören Sie sich seine Lieder an, in denen es um Abschied, Trauer, Verlust, Tod geht. Als Prediger sage ich: Das inspiriert mich sehr!
Mit Udo ist es so: Wir haben uns was zu sagen, und wenn wir uns treffen, tut das uns beiden gut. Udo ist zwar, was das «Zeitmanagement» angeht, ein Anarchist, und doch klappt es immer wieder, dass wir uns sehen. Für mich ist es ein Glück, dass wir zusammengekommen sind.
Irgendwie habe ich dann meinen Platz als Seelsorger in der Panikfamilie gefunden.
Wie kam es, dass Sie mit Udos Panikorchester auf Tour und auch auf dem Rockliner dabei waren?
Wir haben uns bei der Ausstellung seiner Gemäldeserie «Udos 10 Gebote» hier in der St.-Joseph-Kirche kennengelernt. Darüber hat sich eine Freundschaft entwickelt. Organisiert hat das Udos Kurator, Manfred Besser. Manfred ist dann krank geworden, ich habe ihn lange begleitet und 2020 auch beerdigt. Irgendwie habe ich dann meinen Platz als Seelsorger in der Panikfamilie gefunden. Seelsorger heißt nicht, dass ich da Leute bekehren oder ihnen die Beichte abnehmen wollte, aber ich habe einige aus Udos Umfeld in Lebenskrisen begleiten dürfen. So habe ich zum Beispiel die Mutter seines Leibwächters, der in Gelsenkirchen wohnte, beerdigt. Wenn es bei einem aus dem Panikorchester mal nicht gut lief, ist es auch schon vorgekommen, dass er für ein paar Tage hier im Pfarrhaus gewohnt hat, wo wir dann viele gute, intensive Gespräche geführt haben.
Erfahren Sie nicht viel Gegenwind für das, was Sie machen – und für das, was Sie sind?
Natürlich gab und gibt es das; es gibt immer Leute, denen nicht alles an meiner Arbeit passt. Aber eben auch das Gegenteil: starke, offene Unterstützung. Für das, was ich mache, für das, was in meiner Gemeinde passiert. Auf der offiziellen Ebene erfahre ich praktisch ausschließlich große Anerkennung. Wir haben einen Papst, der über sein Pontifikat die Maxime Barmherzigkeit gestellt hat und der nicht müde wird zu sagen: «Geht aus euren Kirchen raus auf die Straße, raus ins Leben! Geht zu den Menschen – geht auch dahin, wo’s schmutzig ist!» Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite haben wir seit 2010 das Problem mit sexuellem Missbrauch, mit sexualisierter Gewalt von Klerikern. Das ist zu Recht so präsent in der Öffentlichkeit, dass die Kirchenleitung froh ist, dass auch mal andere Themen, andere Akzente mit der Kirche in Verbindung gebracht werden.
Wie sähe ein Pastor-Schultz-Kiezspaziergang aus, sagen wir mal: vom Millerntor-Stadion des FC St. Pauli bis zum Elbschlosskeller? Wo würden Sie da überall anhalten?
Das ist schwer zu sagen, da müsste es ganz schön viele Stationen geben. Das ganze Viertel wird ja mit einer Straße in Verbindung gebracht, mit der Reeperbahn – von den Tanzenden Türmen bis zur Davidwache, von Panik City bis zur Alten Liebe. Als im ersten Lockdown alles tot war, bin ich mit meinem evangelischen Kollegen in der Osternacht im Ornat durch unser Gebiet gegangen, auch durch die Herbertstraße. Er hat die Kerze getragen, ich das Kreuz, ein Trompeter hat ein Osterlied gespielt. Wir haben dann einige Stellen auf dem Kiez gesegnet, weil wir immer, Tag für Tag, zeigen müssen, dass Toleranz und Vielfalt nicht nur Schlagworte sind.
Was muss sich in der Kirche ändern?
Ich würde mich freuen, wenn es gelänge, in den nächsten, sagen wir, zehn Jahren den römischen Zentralismus aufzubrechen – und wenn Rom den einzelnen Ortskirchen endlich mehr Autonomie zugestehen würde. Dann müsste nicht jede Einzelfrage, nicht jede Formulierung für die ganze Welt gelten. Manches würde in Afrika oder Asien sicher anders beantwortet werden als bei uns in Europa. Das würde ganz sicher auch Themen betreffen wie Zölibat oder Frauenordination. Da läge viel Segen drauf. Mit anderen Worten: Es lohnt sich, an der Vision einer «mitfühlenden und solidarischen Kirche» festzuhalten.
Zwischen Kirche und Kiez
Womit man auf der Großen Freiheit in Hamburg wohl am wenigsten rechnet, ist eine katholische Kirche. „Dabei sind wir hier der älteste Club – seit 1658!“, sagt Pfarrer Karl Schultz. Auf St. Pauli, wo es neben viel buntem Licht auch jede Menge Schatten gibt, finden Menschen nicht unbedingt den Weg in den Gottesdienst; also sucht Pfarrer Schultz sie da auf, wo sie sind. Und weil er Pfarrer ist und kein Polizist, vertrauen sich ihm auch jene an, die nicht allzu viel mit der Kirche am Hut haben. Das war schon so, als Schultz noch evangelischer Diakon in Rostock war. Vor über 20 Jahren konvertierte er zum katholischen Glauben und ist jetzt angekommen – auf dem Kiez, bei den Menschen.