Im Gespräch

«Man erreicht ein Alter, in dem Geschichte einem nicht mehr wie Geschichte vorkommt»

Jonathan Franzen im Interview zu seinem neuen Roman «Crossroads» - über die Entstehung der Trilogie, die Wahl des Settings in den 1970er Jahren und die Parallelen zur heutigen US-Geschichte.

Autorenfoto Jonathan Franzen auf schwarzem Hintergrund, Text: "Jonathan Franzen im Interview"

Die Fragen stellte Jonathan Galassi, der Verleger von Franzens US-Verlag Farrar, Straus and Giroux

Jonathan Galassi: Ihr jüngstes Buch Crossroads ist nicht nur ein großer neuer Roman, sondern der Beginn eines auch für Sie ganz neuartigen Projekts, weil es sich dabei um den ersten Band einer Trilogie handelt. Wie kam es dazu?
Jonathan Franzen: Vor drei Jahren habe ich das Exposé eines aus drei Teilen bestehenden Romans vorgelegt, von denen jeder in einer anderen Zeit spielen sollte: einer Anfang der 1970er Jahre, einer um das Jahr 2000 und einer in der Gegenwart. Aber als ich beim Schreiben auf Seite 115 des ersten Teils angekommen war, der ungefähr 200 Manuskriptseiten umfassen sollte, hatte ich noch nicht einmal alle fünf Hauptfiguren eingeführt. Die ganze Handlung sollte an einem einzigen Ort und an einem einzigen Abend, dem 23. Dezember 1971, stattfinden, und ich war noch nicht über circa halb drei am Nachmittag hinaus. Nun hätte ich anfangen können, gnadenlos zu kürzen, damit es schneller voranging, aber die Seiten sagten mir, dass ich da zu einer Fülle an Material vorgedrungen war, das bislang offenbar unentdeckt in mir geschlummert hatte. Also beschloss ich, den Rahmen des ganzen Vorhabens zu erweitern und jeden der drei Teile als jeweils eigenständigen Roman anzulegen.

Jonathan Galassi: Erzählen Sie uns ein wenig über die Zeit, in der Crossroads spielt.
Jonathan Franzen: Meine ersten fünf Romane hatte ich alle in einer leicht wiedererkennbaren Gegenwart angesiedelt, und als ich darüber nachdachte, wurde mir klar, dass die entscheidenden Jahre meines Lebens, nämlich die ersten sechs Jahre der Siebziger, in meiner Literatur bisher überhaupt nicht vorgekommen sind. Ich hatte nie über diese Zeit geschrieben, obwohl es die prägende Zeit meines Lebens gewesen ist.

Man erreicht ein Alter, in dem Geschichte einem nicht mehr wie Geschichte vorkommt; sie kommt einem wie eine großartige Möglichkeit vor, darüber zu reden, was in der Gegenwart passiert.

Jonathan Galassi: Die Parallelen zwischen der damaligen Zeit und dem, was heute in Amerika passiert, springen einem ja förmlich ins Auge.
Jonathan Franzen: Ich glaube, für einen Schriftsteller fängt Geschichte ab einem gewissen Zeitpunkt an, interessanter zu werden, weil man dann lange genug gelebt hat, um Dinge wiederkehren zu sehen. Wenn man als Zwanzig- oder Dreißigjähriger schreibt, erlebt man vieles zum ersten Mal. Seit einigen Jahren, beginnend mit Trumps Präsidentschaft und einem Widerstand, der mich an den Widerstand gegen Nixon erinnerte, aber auch bei #MeToo und Black Lives Matter, ist auf einmal mehr von dem radikalen Geist der späten 1960er Jahre zu spüren als in irgendeiner anderen Zeit meines Lebens. Man erreicht ein Alter, in dem Geschichte einem nicht mehr wie Geschichte vorkommt; sie kommt einem wie eine großartige Möglichkeit vor, darüber zu reden, was in der Gegenwart passiert.

Jonathan Galassi: Was ich an Crossroads unter anderem so wunderbar finde, ist, dass Sie uns an jedem Kapitelende in Atem halten. Zudem ist der Stil in gewisser Hinsicht reduziert – die Betonung liegt darauf, was gesagt und was getan wird.
Jonathan Franzen: Das steht in einem größeren Zusammenhang seit meinem Roman Die Korrekturen. Ich hatte das Gefühl, dass ich mit den Korrekturen stilistisch mein Äußerstes gegeben hatte, und seitdem bewege ich mich mehr und mehr auf eine möglichst transparente Art zu schreiben zu. Ich möchte nicht, dass die Leser anfangen, auf den Stil zu achten. Ich möchte, dass sie ganz und gar in der Traumwelt bleiben, ja dass sie noch nicht einmal von einem besonders schönen Satz abgelenkt werden. Jeder Satz soll makellos sein und einen Gedanken in sich tragen, aber ich möchte nicht, dass er die Aufmerksamkeit auf sich zieht.

Aus dem Englischen übersetzt von Bettina Abarbanell

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Jonathan Franzen

Jonathan Franzen

Jonathan Franzen, 1959 geboren, erhielt für seinen Weltbestseller «Die Korrekturen» 2001 den National Book Award. Er veröffentlichte außerdem die Romane «Die 27ste Stadt», «Schweres Beben», «Freiheit» und «Unschuld», das autobiographische Buch «Die Unruhezone», die Essaysammlungen «Anleitung zum Alleinsein», «Weiter weg» und «Das Ende vom Ende der Welt» sowie «Das Kraus-Projekt» und den Klima-Essay «Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen». Er ist Mitglied der amerikanischen Academy of Arts and Letters, der Berliner Akademie der Künste und des französischen Ordre des Arts et des Lettres. 2013 wurde ihm für sein Gesamtwerk der WELT-Literaturpreis verliehen, 2022 der Thomas-Mann-Preis. 2015 erhielt er für seinen Einsatz zum Schutz der Wildvögel den EuroNatur-Preis. Er lebt in Santa Cruz, Kalifornien.

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