Es sei fatal, «aus Angst vor dem Tode Selbstmord zu verüben», sagte der Sozialdemokrat Rudolf Hilferding. Liegt hier nicht das ganze Drama der SPD und der von ihr repräsentierten Teile der Arbeiterklasse in den Brüning-Jahren? Immer weiter zurückweichen, bis die Machtergreifung der Nationalsozialisten nicht mehr zu verhindern war?
Die SPD und die eng mit ihr verbundenen Gewerkschaften sind nicht nur zurückgewichen. Im Buch kann man nachlesen, wie etwa Otto Braun, Carl Severing und Albert Grzesinski gegen die Mobilmachung von rechts wie links gekämpft haben. Die Sozialdemokraten standen freilich vor einem großen Dilemma: Einerseits die Republik retten zu wollen, und das mit nur wenigen und schwachen Bündnispartnern an ihrer Seite, andererseits die Interessen ihrer Mitglieder und Wähler, auch deren sozialistische Hoffnungen vertreten zu wollen und zu müssen.
Ich würde hier gern zwischen unserer Perspektive und der zeitgenössischen unterscheiden. Angesichts der nationalsozialistischen Verbrechen, des vom Dritten Reich entfesselten Krieges, der Zerstörung Europas muss uns der Streit um die Beitragshöhe zur Arbeitslosenversicherung oder um Lohnkürzungen nebensächlich scheinen. Für eine Mutter, die im Frühjahr 1930 schauen musste, wie sie mit dem geringen Einkommen ihres Mannes, der fürchtete, bald entlassen zu werden, die Familie über die Runden bringen konnte, war der Erhalt der Sozialversicherungen, die ein Bollwerk gegen Lohndumping waren, entscheidend, oft auch entscheidend fürs schlichte Überleben. Im Winter 1930 hungerten viele, und Millionen erwarteten, bald zu diesen zu gehören. Für diese Menschen sprachen die Sozialdemokraten, für diese machten sie Politik. Die Republik zu erhalten, hieß für Sozialdemokraten notwendig auch, zu verteidigen, was die Republik ausmachte: etwa das Tarifsystem und das Schlichtungswesen, die Arbeitslosenversicherung, einen auf Argumente, allmähliche Reform, Vernunft setzenden Politikstil.
Thomas Mann hat im Oktober 1930, noch unterm Schock der nationalsozialistischen Wahlerfolge am 14. September, das deutsche Bürgertum zum Bündnis mit der Sozialdemokratie aufgerufen. Nehme es seine geistigen Überlieferungen ernst, sei sein politischer Platz an der Seite der SPD. Das war die Meinung einer kleinen Minderheit, die rasch weiter schrumpfte. Wer über die taktischen Fehler und Irrtümer der Sozialdemokraten in der Weimarer Republik spricht, darf von dem Leichtsinn und der Verantwortungslosigkeit bürgerlicher Politiker und alter Eliten nicht schweigen. Im Buch spielt deswegen der Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht eine größere Rolle. Er kam von der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei, profilierte sich ab 1929 als Kritiker der Republik, trat beim Treffen der «Nationalen Opposition» in Bad Harzburg auf und machte schließlich Karriere unter Hitler. Die SPD vermochte es nicht, dem Zangengriff von links und rechts zu entkommen, aber sie war die organisatorisch wie intellektuell vielfältigste, produktivste, interessanteste Partei der Republik. Dass Sie in Ihrer Frage Hilferding zitieren, ist ja kein Zufall. Wenn wir ihr rückblickend ihre Fehler vorrechnen, stehen wir in der Tradition von Sozialdemokraten – wie Hermann Heller, Wilhelm Hoegner, Otto Braun oder Ernst Fraenkel. Keine andere politische Kraft hat so lange und so entschlossen für Weimar, gegen die faschistische Koalition gekämpft; «auf verlorenem Posten», meinte Otto Braun. Ich habe versucht, den schweren Fehlentscheidungen wie den großen Leistungen, den bis heute nicht überholten Einsichten wie den Illusionen der Sozialdemokraten gerecht zu werden, ihrer manchmal verstörenden Selbstgewissheit wie ihrer Tapferkeit.
Brecht, Eisler, Ossietzky, Benjamin, Kollwitz, Jacobsohn, Tucholsky, Mehring, Heinrich Mann, Kracauer ... Welche Rolle spielte die linke Kulturelite in den letzten Jahren der Weimarer Demokratie? Was hatte sie den Ernst Jüngers, von Salomons und anderen intellektuellen Wegbereitern der radikalen Rechten entgegenzusetzen?
Es fällt mir schwer, diese sehr verschiedenen linken Künstler und Intellektuellen zu einem politischen Lager zusammenzufassen. Haben Brecht und Benjamin die Republik verteidigt oder nicht vielmehr deren revolutionäre Überwindung gewünscht? Hat nicht Brechts «Maßnahme» als totalitärer Entwurf mehr mit Ernst Jüngers ebenfalls totalitärer Vision «Der Arbeiter» gemeinsam als mit Siegfried Kracauers Reportagen, seinen Filmkritiken, seinen Berichten aus der Angestelltenwelt, von den Straßen Berlins? Ernst von Salomon beteiligte sich an der Ermordung Walther Rathenaus, sein Roman «Die Stadt» kommt im Buch vor, weil er erzählt, wie ein radikaler Rechter zwischen Landvolkbewegung, den protestierenden Bauern Schleswig-Holsteins, und rechtsintellektuellen Kreisen in der Hauptstadt seinen Platz sucht.
Die meisten dieser Intellektuellen, nicht alle, trieb revolutionäre Unruhe, sie beobachteten und gestalteten das Ende der bürgerlichen Welt, der Welt der Väter. Manche wechselten die Seiten, etwa Bodo Uhse, der als Nationalsozialist begann und dann Kommunist wurde, oder Brechts zeitweiliger Freund Arnolt Bronnen, der sich dem Kreis um Ernst Jünger anschloss und Kontakte zu Goebbels pflegte. Gewiss besaß Tucholsky mehr Witz als Ernst von Salomon, hatte Kracauer mehr Sinn für die Wirklichkeit als der, soweit es um seine politische Publizistik geht, sich in Beschwörungen und geistesgeschichtlichen Konstruktionen verlierende Ernst Jünger oder die so erfolgreichen wie wirksamen Autoren der «Tat». Im Buch interessiert mich, wie verschiedene Autoren ihre Gegenwart verstehen, welche Wahrnehmungen, Erfahrungen, ideologische Überzeugungen sie gestalten. Und neben den Genannten lasse ich viele mehr zu Wort kommen, etwa die schon erwähnten Sozialdemokraten oder den Erfolgsschriftsteller Emil Ludwig, den Soziologen Theodor Geiger, den liberalen Ökonom Moritz Julius Bonn.
Einen entscheidenden Unterschied gibt es, wenn man grob sortieren will: Die Freiräume für Künstler der Linken wurden in den letzten Jahren der Republik kleiner, während rechte Intellektuelle ihre Zeit für gekommen sahen, den Wind der Geschichte im Rücken zu spüren meinten. Das machte nicht klüger.