Im Gespräch

Zwischen Republik und Faschismus: Jens Bisky über sein neues Buch «Die Entscheidung»

Das Panorama einer extremen Zeit: Jens Biskys fulminante Studie über die letzten Jahre der Weimarer Demokratie.

Jens Bisky
© Bernhardt Link / Farbtonwerk

Der Tod von Außenminister Gustav Stresemann im Oktober 1929 war eine Zäsur. Demokratische Republik oder faschistischer Staat: Das war ab dem Sommer 1930 die Alternative. Was folgte – der Aufstieg radikaler Kräfte, die Pulverisierung der bürgerlichen Milieus, der Aufruhr der Mittelschichten, die Selbstüberschätzung der Konservativen und Nationalisten, die sich einbildeten, Hitler zähmen zu können, Verelendung und Bürgerkriegsfurcht –, mündete in die verbrecherischste Diktatur des 20. Jahrhunderts. Jens Bisky erzählt, wie die Weimarer Republik in einem Wirbel aus Not und Erbitterung zerstört wurde. Es kommen Politiker und Journalisten der Zeit zu Wort, erschöpfte Sozialdemokraten, ratlose Liberale, nationalistische Desperados, Literaten, Juristen, Offiziere. Wie nahmen sie die Situation wahr? Welche Möglichkeiten hatten sie? 

DAS INTERVIEW

Was hat Sie gereizt, sich mit den Schicksalsjahren der Weimarer Demokratie zu befassen?

Ich wollte von der Zerstörung der Republik erzählen, von ihren letzten Jahren, in denen alles ins Rutschen kam, in denen das Parteiensystem erodierte, die parlamentarische Arbeit gelähmt wurde, die Haushaltsdefizite und die Arbeitslosenzahlen wuchsen, die Nationalsozialisten Massen begeisterten, es von Monat zu Monat schlechter wurde. Wie haben die Zeitgenossen, die ja nicht dümmer waren als wir, ihre Gegenwart gedeutet? Was lasen sie in ihren Zeitungen? Was haben sie erwartet, was gehofft, was gefürchtet? Das versuche ich in einem Panorama des Untergangs darzustellen. Dabei fällt rasch die große Lücke zwischen Wissen und Handeln auf; es fehlte nicht an Warnungen vor der faschistischen Gefahr, an Beobachtungen des Nationalsozialismus, wohl aber an politischen Strategien. 1928 glaubten viele mit guten Gründen, die Republik ruhe auf halbwegs sicheren Fundamenten, aber sie zeigten schon im Folgejahr Risse; im Sommer 1930 war klar, dass sie nicht länger trugen.

In der reichen Forschungsliteratur, ohne die ich das Buch nicht hätte schreiben können, liest man vielfach, der Untergang Weimars sei nicht unvermeidlich gewesen, man hätte den Aufstieg Hitlers aufhalten können. Gewiss, ich will dem nicht widersprechen. Aber wann und wie hätte dies geschehen können? Diese Frage hatte ich beim Schreiben ständig im Hinterkopf, woraus die nächste Frage folgt: Sahen die Zeitgenossen diese Dringlichkeit auch? Getrieben hat mich zudem das Unbehagen über manche Floskel, mit der man sich in gegenwärtigen Debatten auf Weimar bezieht, etwa «Republik ohne Republikaner». Das stimmt ja so nicht, selbst für das Jahr 1932 nicht. Die Republikaner haben den Kampf verloren. Davon wollte ich konkret, anhand einzelner Ereignisse erzählen. Daher ist im Buch immer wieder von Theateraufführungen, Reichstagsdebatten, Filmpremieren, Demonstrationen, Skandalen, Kabinettssitzungen, Intrigen, Besprechungen beim Reichspräsidenten die Rede. Allerdings versteht man diese Szenen nur, wenn auch über Tarifverhandlungen, die Reichswehrpolitik, Sparprogramme, Intrigen, Putschpläne und Furcht vor Putschversuchen gesprochen wird.

Ein schwerer Fehler war wohl, dass die Sozialdemokraten zwar vor Gefahren deutlich gewarnt haben, aber glaubten, weiter Politik wie bisher betreiben zu können.

«Kipppunkte der gesellschaftlichen Atmosphäre», schreiben Sie, «lassen sich selten auf den Tag genau datieren. Im Rückblick erkennt man leicht, dass alles viel früher begann.» Weshalb ist das Jahr 1929 so entscheidend für den Zerfall der Weimarer Demokratie?

1929 formiert sich die faschistische Koalition aus der Deutschnationalen Volkspartei, aus dem Stahlhelm, dem Bund der Frontsoldaten, und der NSDAP. Die Herren streiten viel miteinander, vertrauen sich kaum, aber der DNVP-Vorsitzende Alfred Hugenberg und der Stahlhelm-Führer Franz Seldte gehören dann am 30. Januar 1933 dem ersten Kabinett Hitler an, in dem die Nationalsozialisten in der Minderheit waren. Im Herbst 1929 fordern die Unternehmerverbände eine völlig andere Wirtschaftspolitik, sie attackieren die Sozialversicherungen und die in ihren Augen viel zu üppigen Ausgaben der öffentlichen Hand. Noch bevor die Folgen der 1929 beginnenden Weltwirtschaftskrise zu spüren sind, wächst das Haushaltsdefizit. Im Reichswehrministerium, um den Reichspräsidenten Hindenburg und im bürgerlichen Lager glauben manche, nun sei endlich die Zeit gekommen, den «Marxismus» loszuwerden, also ohne die Sozialdemokraten zu regieren. Es wächst das Empfinden, eine Zeitwende zu erleben. Selbstverständlich haben diese Entwicklungen bereits früher begonnen, worauf ich immer wieder hinweise, aber sie verdichten sich 1929 zu einer Entscheidungssituation.

«Kriegsschuldartikel» und Reparationszahlungen, Heroisierung des Kriegs, Hyperinflation, Verelendung weiter Teile der Bevölkerung, der Tod Stresemanns, Präsidialkabinette und Notverordnungspolitik, Selbstaufgabe des bürgerlichen Lagers und strategische Blindheit der Arbeiterparteien, Brutalisierung der Straße … Wann war aus Ihrer Sicht die Weimarer Republik verloren und der faschistische Staat nicht mehr aufzuhalten?

Der erste Geschichtsschreiber der Weimarer Republik, der Ex-Kommunist Arthur Rosenberg, datiert die Todesstunde auf den 18. Oktober 1930. Die SPD hatte beschlossen, den Reichskanzler Heinrich Brüning, der im Parlament keine Mehrheit hinter sich hatte, zu tolerieren, trotz Notverordnungen und Misstrauensanträgen zur Tagesordnung überzugehen. Rosenberg schreibt: «Seitdem hat in Deutschland eine Diktaturregierung die andere abgelöst.» Immerhin gab es weiterhin freie Wahlen, Meinungs- und Pressefreiheit, Rechtsstaatlichkeit, eine Liberalität, die zu verteidigen sich lohnte.

Ich sehe vor allem zwei weitere Schlüsselmomente: den Sommer der Bankenkrise 1931, in dem die SPD nicht auf der Einberufung des Reichstags bestand, und – schwerer wiegend – die Wahl zum Reichspräsidenten im März und April 1932. Man konnte sich zwischen Paul von Hindenburg, Hitler, Ernst Thälmann und dem Stahlhelm-Mann Theodor Duesterberg entscheiden. Für die Inflationsgeschädigten ging Gustav Winter ins Rennen. Einen republikanischen Kandidaten gab es nicht, die Sozialdemokraten unterstützten Hindenburg, der sie das gleich nach seinem Wahlsieg bitter bezahlen ließ. Das war zweifellos eine entscheidende Station auf dem Weg zum 30. Januar. Aber die naheliegende Frage, welchen aussichtsreichen Kandidaten die Republikaner hätten aufstellen sollen, ist kaum zu beantworten. Der preußische Ministerpräsident Otto Braun wollte nicht, einige schlugen Heinrich Mann vor, der gewiss die Massen nicht hätte mobilisieren können. Wer dann? Ich weiß es nicht. Ich kann nur im Rückblick wünschen, Hindenburg wäre nie gewählt und erst recht nicht wiedergewählt worden.

Ein schwerer Fehler war wohl, dass die Sozialdemokraten zwar vor Gefahren deutlich gewarnt haben, aber glaubten, weiter Politik wie bisher betreiben zu können. Sie stellten sich nicht auf den Verlust ihrer Machtpositionen ein, auf den Tag, an dem die Polizei sich gegen sie wenden würde. Der Staatsstreich etwa gegen die preußische Regierung, der Preußenschlag vom 20. Juli 1932, war lange angekündigt. Er traf die Republikaner dennoch unvorbereitet, ratlos, sie wurden überrollt. Es gab keine Strategie, wie dem Umsturz zu begegnen, zumindest jedoch: wie darauf zu reagieren war.

Die Entscheidung

Neu

Als im Oktober 1929 Gustav Stresemann, der erfolgreiche Außenminister, starb, fragten sich die Zeitgenossen, wie es nun mit der Republik weitergehen könne. Gerade formierte sich eine faschistische Koalition, die 1933 an die Macht kam; Bauern warfen Bomben, die öffentlichen Haushalte litten unter wachsenden Defiziten, bald schien das parlamentarische System gelähmt. Demokratische Republik oder faschistischer Staat – so lautete ab dem Sommer 1930 die Alternative.
Was folgte – der Aufstieg radikaler Kräfte, die Pulverisierung der bürgerlichen Milieus, der Aufruhr der Mittelschichten, die Selbstüberschätzung der Konservativen und Nationalisten, die sich einbildeten, Hitler zähmen zu können, Verelendung und Bürgerkriegsfurcht –, mündete in die verbrecherischste Diktatur des 20. Jahrhunderts. Jens Bisky erzählt, wie die Weimarer Republik in einem Wirbel aus Not und Erbitterung zerstört wurde. Es kommen Politiker und Journalisten der Zeit zu Wort, erschöpfte Sozialdemokraten, ratlose Liberale, nationalistische Desperados, Literaten, Juristen, Offiziere. Wie nahmen sie die Situation wahr? Welche Möglichkeiten hatten sie? – Das große Panorama einer extremen Zeit, die noch immer ihre Schatten auf die Gegenwart wirft.

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Es sei fatal, «aus Angst vor dem Tode Selbstmord zu verüben», sagte der Sozialdemokrat Rudolf Hilferding. Liegt hier nicht das ganze Drama der SPD und der von ihr repräsentierten Teile der Arbeiterklasse in den Brüning-Jahren? Immer weiter zurückweichen, bis die Machtergreifung der Nationalsozialisten nicht mehr zu verhindern war?

Die SPD und die eng mit ihr verbundenen Gewerkschaften sind nicht nur zurückgewichen. Im Buch kann man nachlesen, wie etwa Otto Braun, Carl Severing und Albert Grzesinski gegen die Mobilmachung von rechts wie links gekämpft haben. Die Sozialdemokraten standen freilich vor einem großen Dilemma: Einerseits die Republik retten zu wollen, und das mit nur wenigen und schwachen Bündnispartnern an ihrer Seite, andererseits die Interessen ihrer Mitglieder und Wähler, auch deren sozialistische Hoffnungen vertreten zu wollen und zu müssen. 

Ich würde hier gern zwischen unserer Perspektive und der zeitgenössischen unterscheiden. Angesichts der nationalsozialistischen Verbrechen, des vom Dritten Reich entfesselten Krieges, der Zerstörung Europas muss uns der Streit um die Beitragshöhe zur Arbeitslosenversicherung oder um Lohnkürzungen nebensächlich scheinen. Für eine Mutter, die im Frühjahr 1930 schauen musste, wie sie mit dem geringen Einkommen ihres Mannes, der fürchtete, bald entlassen zu werden, die Familie über die Runden bringen konnte, war der Erhalt der Sozialversicherungen, die ein Bollwerk gegen Lohndumping waren, entscheidend, oft auch entscheidend fürs schlichte Überleben. Im Winter 1930 hungerten viele, und Millionen erwarteten, bald zu diesen zu gehören. Für diese Menschen sprachen die Sozialdemokraten, für diese machten sie Politik. Die Republik zu erhalten, hieß für Sozialdemokraten notwendig auch, zu verteidigen, was die Republik ausmachte: etwa das Tarifsystem und das Schlichtungswesen, die Arbeitslosenversicherung, einen auf Argumente, allmähliche Reform, Vernunft setzenden Politikstil.

Thomas Mann hat im Oktober 1930, noch unterm Schock der nationalsozialistischen Wahlerfolge am 14. September, das deutsche Bürgertum zum Bündnis mit der Sozialdemokratie aufgerufen. Nehme es seine geistigen Überlieferungen ernst, sei sein politischer Platz an der Seite der SPD. Das war die Meinung einer kleinen Minderheit, die rasch weiter schrumpfte. Wer über die taktischen Fehler und Irrtümer der Sozialdemokraten in der Weimarer Republik spricht, darf von dem Leichtsinn und der Verantwortungslosigkeit bürgerlicher Politiker und alter Eliten nicht schweigen. Im Buch spielt deswegen der Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht eine größere Rolle. Er kam von der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei, profilierte sich ab 1929 als Kritiker der Republik, trat beim Treffen der «Nationalen Opposition» in Bad Harzburg auf und machte schließlich Karriere unter Hitler. Die SPD vermochte es nicht, dem Zangengriff von links und rechts zu entkommen, aber sie war die organisatorisch wie intellektuell vielfältigste, produktivste, interessanteste Partei der Republik. Dass Sie in Ihrer Frage Hilferding zitieren, ist ja kein Zufall. Wenn wir ihr rückblickend ihre Fehler vorrechnen, stehen wir in der Tradition von Sozialdemokraten – wie Hermann Heller, Wilhelm Hoegner, Otto Braun oder Ernst Fraenkel. Keine andere politische Kraft hat so lange und so entschlossen für Weimar, gegen die faschistische Koalition gekämpft; «auf verlorenem Posten», meinte Otto Braun. Ich habe versucht, den schweren Fehlentscheidungen wie den großen Leistungen, den bis heute nicht überholten Einsichten wie den Illusionen der Sozialdemokraten gerecht zu werden, ihrer manchmal verstörenden Selbstgewissheit wie ihrer Tapferkeit.

Brecht, Eisler, Ossietzky, Benjamin, Kollwitz, Jacobsohn, Tucholsky, Mehring, Heinrich Mann, Kracauer ... Welche Rolle spielte die linke Kulturelite in den letzten Jahren der Weimarer Demokratie? Was hatte sie den Ernst Jüngers, von Salomons und anderen intellektuellen Wegbereitern der radikalen Rechten entgegenzusetzen?  

Es fällt mir schwer, diese sehr verschiedenen linken Künstler und Intellektuellen zu einem politischen Lager zusammenzufassen. Haben Brecht und Benjamin die Republik verteidigt oder nicht vielmehr deren revolutionäre Überwindung gewünscht? Hat nicht Brechts «Maßnahme» als totalitärer Entwurf mehr mit Ernst Jüngers ebenfalls totalitärer Vision «Der Arbeiter» gemeinsam als mit Siegfried Kracauers Reportagen, seinen Filmkritiken, seinen Berichten aus der Angestelltenwelt, von den Straßen Berlins? Ernst von Salomon beteiligte sich an der Ermordung Walther Rathenaus, sein Roman «Die Stadt» kommt im Buch vor, weil er erzählt, wie ein radikaler Rechter zwischen Landvolkbewegung, den protestierenden Bauern Schleswig-Holsteins, und rechtsintellektuellen Kreisen in der Hauptstadt seinen Platz sucht.

Die meisten dieser Intellektuellen, nicht alle, trieb revolutionäre Unruhe, sie beobachteten und gestalteten das Ende der bürgerlichen Welt, der Welt der Väter. Manche wechselten die Seiten, etwa Bodo Uhse, der als Nationalsozialist begann und dann Kommunist wurde, oder Brechts zeitweiliger Freund Arnolt Bronnen, der sich dem Kreis um Ernst Jünger anschloss und Kontakte zu Goebbels pflegte. Gewiss besaß Tucholsky mehr Witz als Ernst von Salomon, hatte Kracauer mehr Sinn für die Wirklichkeit als der, soweit es um seine politische Publizistik geht, sich in Beschwörungen und geistesgeschichtlichen Konstruktionen verlierende Ernst Jünger oder die so erfolgreichen wie wirksamen Autoren der «Tat». Im Buch interessiert mich, wie verschiedene Autoren ihre Gegenwart verstehen, welche Wahrnehmungen, Erfahrungen, ideologische Überzeugungen sie gestalten. Und neben den Genannten lasse ich viele mehr zu Wort kommen, etwa die schon erwähnten Sozialdemokraten oder den Erfolgsschriftsteller Emil Ludwig, den Soziologen Theodor Geiger, den liberalen Ökonom Moritz Julius Bonn.

Einen entscheidenden Unterschied gibt es, wenn man grob sortieren will: Die Freiräume für Künstler der Linken wurden in den letzten Jahren der Republik kleiner, während rechte Intellektuelle ihre Zeit für gekommen sahen, den Wind der Geschichte im Rücken zu spüren meinten. Das machte nicht klüger.

 

Man kann lernen, worauf man achten muss, welche Fehler bereits gemacht wurden und daher vermieden werden können.

«Wer heute auf das Ende Weimars zurückblickt, weiß: Es ist politisch leichtfertig, nicht mit dem Schlimmsten zu rechnen ...» Ist es das, was wir heute aus dem Untergang der Weimarer Demokratie lernen können? 

Die Geschichte spricht ja nicht in Merksätzen, sie spricht überhaupt nicht. Wichtig für die Gegenwart ist, wie wir über sie sprechen. Das Geschehen um den Jahreswechsel 1932/33, als viele glaubten, die Hitlerbewegung werde schwächer, habe den Höhepunkt ihrer Erfolge hinter sich, zeigt zumindest, dass man nicht auf die Schwäche des Gegners vertrauen, sondern diesen niederringen sollte. Wer sich mit dem Untergang der Weimarer Republik beschäftigt, hat reichlich Gelegenheit, seine politische Urteilskraft zu schulen. Das führt nicht zu einem Schatz ewiger Weisheiten und Lehrsätze, sondern zu einer gesteigerten Aufmerksamkeit für die vielen, in einer Krisensituation wichtigen Faktoren. Man kann lernen, worauf man achten muss, welche Fehler bereits gemacht wurden und daher vermieden werden können. Das Geschehen um 1930 ist so komplex, in sich widersprüchlich, dass man lernt, den eigenen Gewissheiten zu misstrauen, eigene Annahmen zu korrigieren und vor allem die richtigen Fragen zu stellen. Wer 1929 annahm, er wisse schon, wie es weitergehen werde, stand rasch vor den Trümmern seiner Illusionen. Gescheiter scheint es mir, stets nach Handlungsketten zu fragen: Was geschieht, wenn nicht dies oder jenes gelingt? Und welche Möglichkeiten bleiben dann?

Ich habe bei der Arbeit an diesem Buch gelernt, wie wichtig Entscheidungen einzelner in Krisensituationen sein können, dass es gefährlich ist, Entscheidungen hinauszuzögern und auf bessere Umstände demnächst zu hoffen und dass unangenehmer ideologischer Streit gleich und mutig geführt werden muss. Im Falle Weimars rächte es sich, dass nach dem Schock über den Versailler Vertrag die Auseinandersetzung mit den Eliten des Kaiserreichs weitgehend unterblieb. So konnte die Rechte die Kriegserinnerungen kapern, sich zur Bewegung im Geiste der einfachen Frontsoldaten inszenieren.

Eine letzte Frage vor dem Hintergrund der jüngsten AfD-Wahlerfolge. Der spiegel machte jüngst mit diesem Cover auf: Björn Höcke, Marine Le Pen, Donald Trump. Und der Frage: «Wie Faschismus beginnt: Die heimlichen Hitler. Kehrt der Faschismus zurück? Oder ist er schon da?» Wie beurteilen Sie diese Zuspitzung – und diesen Faschismusbegriff?

Ich halte gar nichts von Hitler-Vergleichen. Sie erklären wenig, wiegen aber in der trügerischen Sicherheit, man wisse schon, wie der Hase läuft. Wenn der Faschismus zurückkehrt, wird er ein anderer sein als der, den wir kennen. Und, bei allem Respekt: Wer den Provinzpolitiker Höcke mit dem Ex-Präsidenten der USA auf eine Stufe stellt, dem sind die Maßstäbe verrutscht. Eben diese Erzählung von einer Welle, die in Washington Trump, in Frankreich Le Pen und in Thüringen Höcke nach oben spült, stärkt die Kräfte, vor denen sie warnen will. Das bedient die Angstlust und bringt wenig Erkenntnis. Weder in den USA noch in Frankreich oder der Bundesrepublik haben wir derzeit Verhältnisse wie zwischen 1929 und 1934. Ich bin nicht sehr optimistisch, was die nähere politische Zukunft betrifft, aber wer warnen will, sollte sich um Genauigkeit bemühen.

Wollte ich Analogien zwischen Weimar und der Gegenwart suchen, würde ich auf die Seite der Republikfreunde schauen: Beruhigen wir uns nicht zu oft in dem Glauben, Stimmen für Rechtspopulisten (ich rechne das Bündnis Sahra Wagenknecht dazu) seien Ausdruck wirtschaftlicher Nöte? Wie gewinnt man jene, die ihr Selbstbild gekränkt und ihre Normalitätsvorstellungen verletzt sehen, für die eigenen Überzeugungen? Übersehen wir Tendenzen zur Lähmung der parlamentarischen Arbeit? Ist der politische Streit – jenseits der Frontstellung gegen die AfD – lebendig genug, scharf und konstruktiv zugleich? Stehen uns quälend lange Jahre einer großen Koalition bevor? Wo sind liberale politische Experimente der Gegenwart? Wie kann man die öffentliche Auseinandersetzung prägen, ohne den Themenvorgaben der Rechtspopulisten zu folgen? Wie soll die Republik in zehn oder fünfzehn Jahren aussehen? Oder geht es nur um die Verteidigung des Status quo? Wohin geht am Abend der großen Demonstrationen gegen rechts die republikanische Energie? Wie begegnet man vernünftig den wieder populären Endzeiterzählungen und apokalyptischen Erwartungen? 

All das wären Fragen für ein Buch über die Gegenwart, in anderer Form stellten sie sich auch in der Weimarer Republik. Als ich am Buch schrieb, protestierten Bauern, entdeckte man Haushaltslücken, häuften sich wirtschaftliche Schwierigkeiten, wurde die Sozialpolitik als viel zu großzügig attackiert, drohte die Regierungskoalition zu zerbrechen, machte eine Partei lautstark und erfolgreich gegen alle anderen mobil. Vieles erinnerte an den Jahreswechsel 1929/30, und doch ist alles ganz anders. Wie schon gesagt: der Weimar-Vergleich sollte bessere Fragen aufwerfen, nicht das Nachdenken über die Gegenwart ersetzen.

 

Jens Bisky

Jens Bisky

Jens Bisky, geboren 1966 in Leipzig, studierte Kulturwissenschaften und Germanistik in Berlin. Er war lange Jahre Feuilletonredakteur der «Süddeutschen Zeitung» und arbeitet seit 2021 am Hamburger Institut für Sozialforschung. Er ist Autor viel beachteter Bücher, darunter «Geboren am 13. August» (2004), «Unser König. Friedrich der Große und seine Zeit» (2011) und «Berlin. Biographie einer großen Stadt» (2019). 2017 verlieh ihm die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung den Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay.