Als Goethe im Jahr 1832 starb, hatten die Französische Revolution, die napoleonischen Kriege und die Industrialisierung Europa von Grund auf verändert. Thomas Steinfeld erzählt Goethe neu – als einen Menschen, in dessen Leben und Werk sich die Umbrüche jener Zeit auf einzigartige Weise spiegeln. Goethe tritt in den vertrauten Rollen des Dichters, Theatermachers oder Reisenden auf, aber auch in den weniger bekannten des Politikers, Kriegsbeobachters und Naturforschers. Steinfeld zeichnet das Bild eines Intellektuellen, der nichts schreiben konnte, ohne zugleich das Gegenteil zu denken, eines Konservativen, der sich stets auf der Höhe der Zeit befand – und eines klugen, neugierigen, aber auch einsamen Menschen, der einige der schönsten und tiefsten Werke schrieb, die es in der deutschen Literatur gibt.
DAS INTERVIEW
Statt ihn wieder einmal als «ewigen Helden der deutschen Kultur» zu feiern, zeigen Sie Goethe als «freien, universal gebildeten, gelegentlich widersprüchlichen, manchmal abgründigen, oft isolierten, stets aber hellen Geist». Was war das Besondere, das Einzigartige an ihm?
Was ihn auszeichnete: Klugheit, gepaart mit einem scharfen Bewusstsein für die Verwerfungen in Kultur, Ökonomie und Gesellschaft im Übergang zum bürgerlichen Zeitalter und einem manchmal geradezu unglaublichen Vermögen, dafür einen poetischen Ausdruck zu finden. Graf Sternberg, ein Freund der späten Jahre, hatte recht, als er Goethe als «Forscher» bezeichnete. Was ihn einzigartig machte: Er war der letzte Universalist, ein Dichter, ein Beamter, ein Forscher auf vielen Gebieten, ein Skeptiker, auch gegenüber sich selbst. Auf ihn folgten die Experten, die Fachleute, die Berufsmenschen aller Art.
Wie war es möglich, dass Weimar – nach heutigen Maßstäben eine Kleinstadt («etwa 600 Häuser») – zu einer Gelehrtenrepublik im Kleinformat wurde, einer «kulturellen Macht von globaler Bedeutung»?
Weimar mag eine Kleinstadt gewesen sein. Sachsen-Weimar aber war, einem hartnäckigen Gerücht entgegen, kein kleines Land. Und der Hof Herzog Carl Augusts war einer der bedeutendsten und auch einer der größten deutschen Höfe des späten 18. Jahrhunderts. Die Rede vom «Musenhof» suggeriert, es gebe hier das kleine, künstlerische, philosophische Weimar im tiefen Wald, dort das große Berlin, das Militär, die Macht und das Geld. Das ist aber eine Legende aus dem späteren 19. Jahrhundert. In Weimar wurde allerdings konsequent Kulturpolitik getrieben. Den Anfang machte Wieland, dann kam Goethe hinzu. Und spätestens ab etwa 1810 gab es auch eine bewusst geplante Erinnerungspolitik mit Goethe in der Mitte – sie fand ihre Interessenten allerdings zunehmend im Ausland, in England oder in Frankreich, während Goethe dem entstehenden deutschen Nationalismus befremdet gegenüberstand, und befremdet waren auch viele deutsche Dichter von Goethe.