Im Gespräch

Letzter Universalist an der Schwelle zur Moderne: Thomas Steinfeld im Gespräch über «Goethe»

Johann Wolfgang von Goethe – Porträt eines Lebens, Bilder einer Zeit

Der Autor Thomas Steinfeld
© Rie Hägerdal

Als Goethe im Jahr 1832 starb, hatten die Französische Revolution, die napoleonischen Kriege und die Industrialisierung Europa von Grund auf verändert. Thomas Steinfeld erzählt Goethe neu – als einen Menschen, in dessen Leben und Werk sich die Umbrüche jener Zeit auf einzigartige Weise spiegeln. Goethe tritt in den vertrauten Rollen des Dichters, Theatermachers oder Reisenden auf, aber auch in den weniger bekannten des Politikers, Kriegsbeobachters und Naturforschers. Steinfeld zeichnet das Bild eines Intellektuellen, der nichts schreiben konnte, ohne zugleich das Gegenteil zu denken, eines Konservativen, der sich stets auf der Höhe der Zeit befand – und eines klugen, neugierigen, aber auch einsamen Menschen, der einige der schönsten und tiefsten Werke schrieb, die es in der deutschen Literatur gibt.

DAS INTERVIEW

Statt ihn wieder einmal als «ewigen Helden der deutschen Kultur» zu feiern, zeigen Sie Goethe als «freien, universal gebildeten, gelegentlich widersprüchlichen, manchmal abgründigen, oft isolierten, stets aber hellen Geist». Was war das Besondere, das Einzigartige an ihm?

Was ihn auszeichnete: Klugheit, gepaart mit einem scharfen Bewusstsein für die Verwerfungen in Kultur, Ökonomie und Gesellschaft im Übergang zum bürgerlichen Zeitalter und einem manchmal geradezu unglaublichen Vermögen, dafür einen poetischen Ausdruck zu finden. Graf Sternberg, ein Freund der späten Jahre, hatte recht, als er Goethe als «Forscher» bezeichnete. Was ihn einzigartig machte: Er war der letzte Universalist, ein Dichter, ein Beamter, ein Forscher auf vielen Gebieten, ein Skeptiker, auch gegenüber sich selbst. Auf ihn folgten die Experten, die Fachleute, die Berufsmenschen aller Art.

Wie war es möglich, dass Weimar – nach heutigen Maßstäben eine Kleinstadt («etwa 600 Häuser») – zu einer Gelehrtenrepublik im Kleinformat wurde, einer «kulturellen Macht von globaler Bedeutung»?

Weimar mag eine Kleinstadt gewesen sein. Sachsen-Weimar aber war, einem hartnäckigen Gerücht entgegen, kein kleines Land. Und der Hof Herzog Carl Augusts war einer der bedeutendsten und auch einer der größten deutschen Höfe des späten 18. Jahrhunderts. Die Rede vom «Musenhof» suggeriert, es gebe hier das kleine, künstlerische, philosophische Weimar im tiefen Wald, dort das große Berlin, das Militär, die Macht und das Geld. Das ist aber eine Legende aus dem späteren 19. Jahrhundert. In Weimar wurde allerdings konsequent Kulturpolitik getrieben. Den Anfang machte Wieland, dann kam Goethe hinzu. Und spätestens ab etwa 1810 gab es auch eine bewusst geplante Erinnerungspolitik mit Goethe in der Mitte – sie fand ihre Interessenten allerdings zunehmend im Ausland, in England oder in Frankreich, während Goethe dem entstehenden deutschen Nationalismus befremdet gegenüberstand, und befremdet waren auch viele deutsche Dichter von Goethe.

Napoleon war für Goethe (und nicht nur für ihn) ein bedeutender, unendlich mächtiger Mensch, der sich gleichsam selbst geschaffen hatte, und nicht nur sich selbst, sondern um sich herum eine ganze Welt.

Mit Revolution, mit Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit hatte der Geheime Rat Goethe nichts im Sinn; die Napoleonischen Kriege hat er verabscheut. Er war «konservativ von einer Art, wie es sie schon lange nicht mehr gibt: bewahrend, konservierend, in einem weiten Sinn». Was aber hat ihn an Napoleon Bonaparte fasziniert?

Napoleon war für Goethe (und nicht nur für ihn) ein bedeutender, unendlich mächtiger Mensch, der sich gleichsam selbst geschaffen hatte, und nicht nur sich selbst, sondern um sich herum eine ganze Welt. Dass die große Zeit dieses Menschen nur ungefähr fünfzehn Jahre dauerte, dass sie kaum eine halbe Generation währte, bevor sie auf ebenso furchtbare wie grandiose Weise unterging, steigerte die Faszinationskraft dieser Geschichte. Und auch damit nicht genug: In Napoleon schien die Möglichkeit auf, nach dem lang erwarteten Untergang des alten Reiches, nach der Kleinstaaterei und der damit verbundenen Zwietracht ein neues Europa gestaltet zu sehen. Bis zuletzt hoffte Goethe auf eine dauerhafte Friedensordnung für den ganzen Kontinent unter französischer Führung – Goethe dachte darin ganz und gar europäisch.

Goethe hat in seinem Leben Berge von Papier beschrieben, aber viele seiner Aufzeichnungen, Tagebücher, Werkskizzen wurden vernichtet. Hat es mit dem zu tun, was Sie in der Einleitung schreiben: «Die Gegenwart interessierte ihn, auch die Vergangenheit, niemals aber die Zukunft»?

Nun ja, die Zukunft interessierte Goethe vor allem deswegen nicht, weil man nicht wissen kann, was kommt. Gewiss war er sich nur, dass nichts wesentlich Besseres kommt, in der Moral wie in der Philosophie, da war er sich gewiss. Und weil man nicht wissen kann, was kommt, wurden vor allem Briefe vernichtet. Denn auch wenn ihn die Zukunft nicht interessierte, hatte Goethe durchaus ein Interesse an dem Bild, das sich die Menschen von ihm machten. Goethe entwarf sich eine Biographie, «Dichtung und Wahrheit» genannt. In diesem Sinne räumte er gelegentlich unter seinen Papieren auf. Mit durchschlagendem Erfolg: Ich glaube nicht, dass je eine Biographie so viele Biographien herausforderte, wie «Dichtung und Wahrheit» es tat.

Goethe war, so scheint es, ein radikaler Skeptiker, obwohl er seine Skepsis oft gut verbarg.

Das Denken in den großen Kategorien der Geschichte war Goethe fremd. Die Weltgeschichte sei  «das Absurdeste, was es gibt; ob dieser oder jener stirbt, dieses oder jenes Volk untergeht, ist mir einerlei, ich wäre ein Tor, mich darum zu kümmern.» Hat der Schriftsteller Martin Mosebach das gemeint, als er Goethe eine «bis zur Destruktion gehende Skepsis» attestierte?

Auch, aber nicht nur. Goethe war, so scheint es, ein radikaler Skeptiker, obwohl er seine Skepsis oft gut verbarg. Nehmen wir zum Beispiel «Die Leiden des jungen Werthers»: An der Oberfläche ist der Briefroman eine Liebesgeschichte mit traurigem Ausgang, im Inneren aber eine Kritik der Vorstellung von Liebe als einer alles überwindenden Kraft, so wie sie im späten 18. Jahrhundert um sich griff. Werther, angeblich ein Originalgenie, kopiert in einem fort: Spinoza, Ossian, Klopstock. Nicht einmal sterben kann er, ohne eine Gebrauchsanleitung für das Sterben auf dem Tisch liegen zu haben: Lessings Drama «Emilia Galotti». Und so geht das fort: die «Lehrjahre» – ein Bildungsroman, in dem sich, was der Held für seine Bildung hält, als ein im Detail ausstudierter Plan einer überlegenen Macht erweist. Der «Faust» – «denn alles, was entsteht, ist wertdass es zugrunde geht; / Drum besser wär's, dass nichts entstünde». Man muss das ernst nehmen.

Am Ende seines langen Lebens stand Goethe an der Schwelle zur Moderne. Mit Eisenbahnen, Maschinen, Banken, frühen Massenmedien: eine Zeit, als zersplitterte Territorien zu Nationen wurden und Völker zu politischen Subjekten. Wäre eine Figur wie Goethe in dieser neuen Zeit überhaupt denkbar gewesen – in dieser Größe, dieser epochalen Relevanz?

Nein, auf keinen Fall. Denken Sie an die Brüder Humboldt, an deren Erziehungsplan Goethe beteiligt gewesen war: Beinahe noch waren sie Universalisten, aber jeder war dann nur ein halber, Wilhelm ein Philosoph, Sprachforscher und Politiker, Alexander ein Naturforscher und Entdeckungsreisender. Und so ging es in vielen Bereichen. In der Staatsverwaltung zum Beispiel: Noch zu Lebzeiten Goethes wurde sie auch im Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach in einem Maße professionalisiert, dass Goethe darin nur noch nach einer Intervention des Souveräns einen Platz fand. Und gäbe es einen anderen Dichter, der sich so systematisch durch alle literarischen Genres und deren Varianten gearbeitet hätte, wie Goethe es tat? In der Novellensammlung «Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten» aus dem Jahr 1795 ist dieses systematische Durchschreiten der Erzählformen sogar (Forschungs-)Programm. Und Goethe antwortete damit auf Schillers Konzept einer autonomen Kunst. Goethe wollte sich auch dadurch nicht einschränken lassen.

Selbst wenn Goethe lange vor «Wilhelm Meisters Wanderjahre» (1821) schon «mit dem Rücken zum Publikum» schrieb: War es nicht auch ein Stück Koketterie, wenn er seine Naturforschungen mit Blick auf die Nachwelt über sein dichterisches Schaffen stellte?

Goethe konnte kokett sein, aber im Fall seiner Naturforschung war er es bestimmt nicht. Das gilt für alle Felder, auf denen er arbeitete: für die Geologie, die Anatomie, die Biologie oder die Meteorologie. Er meinte es ernst, als er behauptete, sich auf seine Leistungen als Poet wenig einzubilden, umso mehr aber auf seine Errungenschaften in der Farbenlehre. Und er meinte es auch ernst, als er behauptete, den Physiker Isaac Newton – schon damals der Inbegriff eines Naturforschers – sachlich wie methodisch widerlegt zu haben. Doch je weiter sich die Naturwissenschaften im 19. und frühen 20. Jahrhundert entwickelten und je selbstverständlicher es wurde, dass der Fortschritt technisch definiert werden sollte, desto abenteuerlicher erschienen Goethes Ansprüche. Sie waren es aber nicht. Denn nicht nur, dass sich seine Forschungen durchaus im Rahmen des damals Üblichen bewegten – und zu jener Zeit waren eben viele Dinge, die heute als selbstverständlich erscheinen, methodisch noch nicht gefestigt, die Ordnung der naturwissenschaftlichen Disziplinen zum Beispiel. Vielmehr bewegen sich heutige Naturwissenschaften, etwa in der Physiologie der Farben, auf Feldern, die Goethe vertraut vorgekommen wären.

«Fack ju Göthe» finde ich prima, weil der Erfolg dieser Filme zeigt, dass Goethes Bedeutung für die Schule keineswegs erloschen ist.

Fack ju Göthe! Soll keiner sagen, in deutschen Schulen sei der Name des Dichterfürsten komplett unbekannt. Wenn man eine (lesende) Schulklasse überzeugen wollte, sich mit dem ersten Teil des «Faust» zu beschäftigen – was wären da zündende Argumente?

«Fack ju Göthe» finde ich prima, weil der Erfolg dieser Filme zeigt, dass Goethes Bedeutung für die Schule keineswegs erloschen ist. Und der Schlüssel zu diesem Drama ist nicht Faust, nicht das Streben nach Wissen (also ein Stück Fortschrittsideologie, an die kein Mensch mehr glaubt). Der Schlüssel ist Mephistopheles und die Frage nach dem Augenblick. Es geht also darum, was Zeit ist, was Dauer und Vergänglichkeit bedeuten. Dafür steht Mephistopheles, und je mehr man einen Sinn dafür entwickelt, was diesen Teufel umtreibt, desto interessanter wird das Drama. Ich habe noch keinen Fünfzehn- oder Sechzehnjährigen getroffen, der sich für solche Fragen nicht interessiert, und wenn’s klemmt, kann man Pink Floyd zu Hilfe nehmen: «And you run, and you run to catch up with the sun but it’s sinking».

Goethe

Als Goethe im Jahr 1832 starb, hatten die Französische Revolution, die Napoleonischen Kriege und die Industrialisierung Europa von Grund auf verändert. Thomas Steinfeld erzählt Goethe neu – als einen Menschen, in dessen Leben und Werk sich die Umbrüche jener Zeit auf einzigartige Weise spiegeln: beginnend mit der Kindheit in Frankfurt und den Studienjahren in Leipzig und Straßburg, über die Phase des poetischen Aufbruchs bis hin zum «Faust», zur «Farbenlehre» und zum «West-östlichen Divan». Auch das Herzogtum Sachsen-Weimar rückt in ein neues Licht, als eine intellektuelle Landschaft von großer Bedeutung für die Philosophie, die Medizin oder die Physik.
Goethe tritt in den vertrauten Rollen des Dichters, Theatermachers oder Reisenden auf, aber auch in den weniger bekannten des Politikers, Kriegsbeobachters und Naturforschers. Steinfeld zeichnet das Bild eines Intellektuellen, der nichts schreiben konnte, ohne zugleich das Gegenteil zu denken, eines Konservativen, der sich stets auf der Höhe der Zeit befand – und eines klugen, neugierigen, aber auch einsamen Menschen, der einige der schönsten und tiefsten Werke schrieb, die es in der deutschen Literatur gibt.

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Thomas Steinfeld

Thomas Steinfeld

Thomas Steinfeld, geboren 1954, war Literaturchef der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung», bevor er zur «Süddeutschen Zeitung» wechselte, dort lange Jahre das Feuilleton leitete und zuletzt als Kulturkorrespondent in Italien arbeitete. Von 2006 bis 2018 lehrte er als Professor für Kulturwissenschaften an der Universität Luzern. Er ist Autor vielbeachteter Bücher, darunter «Weimar» (1998), «Der Sprachverführer» (2010), «Herr der Gespenster. Die Gedanken des Karl Marx» (2017) und «Italien. Porträt eines fremden Landes» (2020). Für seine Übersetzung von Selma Lagerlöfs Roman «Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden» war er 2015 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Thomas Steinfeld lebt in Südschweden.