Im Gespräch

Das Jahr in der Unselben Welt

«Luyánta» – ein spannender Abenteuerroman, ein hinreißendes Leseerlebnis

Grüner Banner mit Autorenfoto von Albrecht Selge.
© Gene Glover

Bei einem Wanderurlaub in Südtirol erreichen das Mädchen Jolantha Rufe aus einer anderen Welt. Eine Gruppe von Murmeltieren bittet Jolantha, sie zu ihren Verbündeten zu bringen, die sich in schwerer Bedrängnis befinden: das alte, lange verborgene Volk der Fanesleute. Jolantha ist verblüfft, als sie erfährt, dass sie die Fanes-Prinzessin Luyánta sein soll, die das untergegangene Reich vor langer Zeit verließ. Ehe sie sich’s versieht, ist sie in abenteuerliche Kämpfe mit einem Feind verstrickt, der im Bund mit bizarren dämonischen Kräften ist. Denn in der Unselben Welt herrscht Krieg zwischen den Fanesleuten und dem Heer des grausamen Adlerprinzen ... Inspiriert vom Epos um das Fanesvolk der Dolomiten, entführt uns Albrecht Selge mit «Luyánta» in eine fantastische Welt. Die Geschichte eines besonderen Mädchens – und ein außergewöhnliches Abenteuer.

DAS INTERVIEW

2016 ist Ihr Roman «Die trunkene Fahrt» erschienen. Vier ziemlich schräge Typen fahren in einem engen Fiat Panda durch Südtirol, trinken viel und reden ohne Unterlass: über Bach und Beethoven, Kant und Kafka, Laokoon, das Waldsterben, die Apokalypse. Nun sind Sie mit «Luyánta» wieder in Südtirol gelandet – mit einem Stoff, der nicht gegensätzlicher sein könnte. Albrecht Selge und Südtirol, was ist das für eine Geschichte?
Zunächst mal eine rein persönliche. Meine Frau ist Südtirolerin, das Pustertal die zweite Heimat meiner Familie. Ein wunderbarer Kontrast zu Berlin, wo wir sonst leben, gerade für unsere Kinder. 
Aber Südtirol ist für mich auch ein großer Erzählraum, ein Land, überreich an Geschichte und Geschichten. Das Südende des deutschen Sprachraums, wie mein über 80-jähriger Schwiegervater gern sagt. Allerdings, wenn ich mit ihm auf Wanderungen bin und er mit alten Bergbauern plaudert, verstehe ich oft kein Wort! Manchmal liegt das dann nicht am urigen Dialekt (in den habe ich mich halbwegs eingehört im Lauf von zwanzig Jahren), sondern daran, dass sie Ladinisch reden – die uralte rätoromanische Sprache, die heute noch von einigen Zehntausend Menschen dort benutzt wird. Sie hat einen ganz eigenen Klang, beinah bizarr, wenn man sie zum ersten Mal hört. 
Dann ist da auch das spannende Gebilde Südtirol, das so eine zerrissene Historie hat. Spielball zwischen dem deutschen und dem italienischen Faschismus, leidvoll. Aber heute ist das kleine Land auch eine Art Idealbild mit seiner weitreichenden Autonomie, mit dem Frieden, den das Land zwischen Österreich und Italien gefunden hat, in einem gemeinsamen «Europa der Regionen», wie man so schön sagt. Ich finde, das ist dort mehr als ein Schlagwort. Auch wenn es das andere natürlich auch immer noch gibt, den stumpfen Nationalismus aus der Mottenkiste des Grauens. Der ist nicht totzukriegen. 
Und schließlich ist Südtirol einfach ein wunderschönes Land. Auch und gerade fernab der touristischen Klischees und des überdrehten Wintersport-Trubels. Sowohl «Die trunkene Fahrt» als auch «Luyánta» basieren zwar irgendwie auf persönlichen Südtiroler Erlebnissen. Das Erste auf einer wahnwitzigen Spritztour quer durchs Land (allerdings in keinem Fiat Panda). Das Zweite auf dem freien Fabulieren, das sich aus der Vertrautheit mit einer alten, richtig epischen Dolomitensage ergeben hat, die in Südtirol sehr bekannt ist. Allerdings, beides ist nun wirklich keine Regionalliteratur. Das wäre ja auch eine Anmaßung sondergleichen, wenn ich da eine Art Heimatliteratur produzieren wollte. Es geht ins Weite. 

Aber meine Tochter sagte auch öfter, ich solle doch mal «was Spannenderes» schreiben, etwas, was auch sie wirklich interessieren würde.

Ihr neuer Roman dürfte viele verblüffen, die mit Ihrem literarischen Werk vertraut sind, mit «Wach», «Fliegen», «Die trunkene Fahrt», Beethovn». Was war der Anstoß, sich mit einem Stoff aus dem ladinischen Nationalepos, mit dem sagenumwobenen Alpenvolk der Fanes, zu befassen – und zwar so, dass es junge wie erwachsene Leser:innen gleichermaßen fesselt?
Der erste Anstoß war meine Tochter, die (wie auch mein älterer Sohn) öfter bei Lesungen von mir dabei war. Sehr geduldig haben sie da zugehört! Aber meine Tochter sagte auch öfter, ich solle doch mal «was Spannenderes» schreiben, etwas, was auch sie wirklich interessieren würde. Kindliche Einschlafgeschichten habe ich ihnen immer erzählt, von den verrückten Hasen Peppi und Pippo, später von dem kleinen Bären und seinen Freunden wie dem rosa Elefanten … Aber ein richtiges Buch, das war schon noch mal ein anderer Auftrag!
Und so hat es dann auch ein bisschen gedauert, bis es endlich dazu gekommen ist. Meine beiden älteren Kinder sind jetzt schon voll erblühende Teenager. Und so ist es auch kein Kinderbuch geworden (das will ich jetzt für unseren Jüngsten aber auch noch machen), sondern eins für Jugendliche und, mehr noch, über die Schwelle zum Erwachsenwerden. Das ist ja eigentlich eine lebenslange Frage. Und das Buch handelt von einer anderen Welt, in der ich mich selbst völlig verloren habe. Darum denke und hoffe ich, dass es tatsächlich sowohl junge als auch erwachsene Leser anspricht.
Sowohl meine Frau als auch meine Tochter tragen Namen aus dem Sagenkreis der Fanes. Da lag es nahe, diese Figuren als Ausgangspunkt zu wählen. Aber ich wollte die alten Geschichten nicht einfach nacherzählen. Das ist tausendmal passiert, mal mehr und mal weniger gelungen. Ich wollte das universaler machen, und man muss den Mythos auch überhaupt nicht kennen, um den Roman zu verstehen. Und auch das Land Südtirol nicht (obwohl es kennenzulernen lohnt!). 
Die Fanessage ist unter anderem ein gewaltiges Kriegsepos, es handelt vom Untergang eines großen Reichs und der Hoffnung auf seine Wiederauferstehung. Für mich hat sich dann als erzählerischer Antrieb die Frage ergeben: Gesetzt, dieses verlorene Reich erstünde neu – wie ließe sich der fatale Kreislauf des Krieges durchbrechen? Dass das erst über den Weg durch viele, viele Abenteuer möglich ist, versteht sich dabei von selbst. Denn das wollte ich nun wirklich vermeiden, dass meine Tochter am Ende zu mir sagt: «Papa, statt 200 Seiten Langeweile hast du jetzt 800 Seiten Langeweile produziert.» Aber zum Glück hat sie den Roman am Ende gutgeheißen!

Ich will auf keinen Fall das Genre der Fantasy karikieren. «Luyánta» ist ein ernstes Epos. Wenn schon Fantasy, dann richtig. Aber auf meine eigene Weise.

Die «Luyánta»-Sprache dürfte Ihnen nicht einfach zugefallen sein. Es ist ein spezieller Ton, märchenhaft und mythengeladen, dann aber wieder ganz handfest und mit junger Alltagssprache durchgesetzt; man hat beim Lesen immer das Gefühl von Frische und Gegenwärtigkeit. Wie haben Sie diesen besonderen Luyánta-Sound gefunden?
Die Hauptfigur gibt den Ton vor. Sie ist ein junges Mädchen, schaut ständig YouTube und so was, und sie ist oft extrem angenervt von der Welt und ziemlich schlecht gelaunt. Ehrlich gesagt, manchmal kann sie ein richtiger fauchender Drache sein, zum Fürchten. Aber sie hat auch ein großes Herz und eine überbordende Fantasie. Und dann gelangt sie in diese völlig andere Sphäre hinein, die Unselbe Welt, halb Mythos, halb Traum. Da geht es allerdings richtig zur Sache. Das sind verschiedene Sprachebenen, die ich gern verbinden wollte. Aber ohne diesen hohen, weihevollen Ton, der manchmal «Fantastik» vorgaukeln soll. Klar gibt es auch die hohe Sprache, es geht ja um Leben und Tod, um Glück oder Untergang. Aber dann kippt es auch oft ins Komische, Groteske. Der Erzbösewicht der Fanessage ist ein halb verwestes Maultier, das ist doch irre und muss auch eine entsprechend irre Sprache haben! Darum lasse ich bei seinen Auftritten die K-konsonanten k-klappern wie die heraushängenden Knochen, und überhaupt stinkt seine Sprache ganz pestilenziös. 
Ich finde übrigens, das Komische kann unbedingt mit dem Aufregenden und mit dem Schrecklichen, Gruseligen zusammengehen. Damit meine ich aber nicht, dass es parodistisch wäre! Ich will auf keinen Fall das Genre der Fantasy karikieren. «Luyánta» ist ein ernstes Epos. Wenn schon Fantasy, dann richtig. Aber auf meine eigene Weise.

Könnten die drei letzten Wörter Ihres Twitter-Eintrags «Zugezogen, angeheiratet, kinky-winky män epte hoi» ladinisch sein? Anders gefragt: Wie sieht es mit Ihren Ladinisch-Kenntnissen aus?
O weh! Ganz mau sieht es damit aus. So was lernt man aber auch nicht als Zugezogener oder Angeheirateter. Mein Schwiegervater ist Ladiner. Meine Frau kann es leider nicht mehr sprechen. Aber generell hat das Ladinische in den letzten Jahren und Jahrzehnten eine starke Renaissance erfahren, es gibt ein aktives Ladinisches Kulturinstitut im Gadertal, und viele junge Leute sprechen es bewusst und geben es weiter. Man ist sich bewusst geworden, was für ein Schatz das ist. Eine schöne, friedliche Form von Stolz – zwischen dem großen Deutschen und dem großen Italienischen, die das Kleine so oft auszuradieren drohten. Möge es noch lange leben und gedeihen! Auch wenn ich es nicht verstehe, sondern nur die Musik des Sprachklangs genießen kann.

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Wie (und wann) haben Sie Ihren Kindern von Luyánta erzählt bzw. aus dem Text vorgelesen? Mein Sohn, mein Testleser – meine Tochter, mein Fantasy-Korrektiv ...?
Ich habe ihnen tatsächlich das gesamte Buch während des Schreibens vorgelesen, in mehreren Etappen, immer, wenn ein längerer Abschnitt fertig war. Das war ja auch die schwierige Zeit der Lockdowns, man saß viel zu Hause, oft ganz schön ätzend, bisweilen unerträglich. Immerhin, gute Zeiten fürs heimische Vorlesen …
Manchmal haben mir meine Kinder beim Vorlesen dann gesagt, Papa, so geht das aber nicht. Das ist unlogisch. Oder peinlich. Einiges von ihrer Kritik, ihren Vorschlägen und Ideen ist dann eingeflossen. Ein paarmal habe ich allerdings auch halsstarrig auf meinen eigenen Vorstellungen beharrt. Denn ein Epos muss auch seine eigene Logik haben. Aber insgesamt habe ich von ihnen doch ganz positive Kritiken bekommen. Außerdem gab es noch ein paar andere jugendliche Testleser. Und einige Erwachsene durften auch ran. Aber die Änderungsvorschläge der Jugendlichen waren meistens besser, ehrlich gesagt!

Herr der Ringe, Unendliche Geschichte, Tintenwelt-Trilogie: Lesen Sie selbst (oder gemeinsam mit Ihren Kindern) gern Fantasyromane?
Klar habe ich einiges vorgelesen und auch früher einiges selbst gelesen. Und dann auch noch mal vieles gezielt während der Arbeit an «Luyánta». Dennoch bin und bleibe ich ein staunender Besucher in der Welt der Fantasy, ein Fremder, kein Ureinwohner. Ein bisschen geht es mir da wie der Hauptfigur, die in die Unselbe Welt kommt, in ein unbekanntes, oft verwirrendes Reich. Darum nehme ich das Genre aber auch furchtbar ernst, ich habe sehr viel Respekt davor. Wie sagt, Parodie – nein danke, das fände ich überheblich. Ich versuche, ein respektvoller Eindringling zu sein.
Aber nochmals: eben auf meine eigene Weise. Es sind auch Anregungen von anderswo eingeflossen. Zum Beispiel die faszinierenden Zeichentrickfilme aus dem Hause Miyazaki, das Studio Ghibli, solche Meisterwerke wie «Nausicaä aus dem Tal der Winde» oder «Chihiros Reise ins Zauberland». Das Spielerische, Farbenreiche, auch Kitschige. Und eine gewisse Grenzenlosigkeit.

Albrecht Selge

Albrecht Selge

Albrecht Selge, geboren 1975 in Heidelberg, studierte Germanistik und Philosophie in Berlin und Wien. Sein begeistert aufgenommenes Debüt «Wach» (2011) wurde für den Alfred-Döblin-Preis nominiert und mit dem Klaus-Michael-Kühne-Preis des Harbour Front Literaturfestivals Hamburg ausgezeichnet. Die folgenden Romane «Die trunkene Fahrt» (2016), «Fliegen» (2019) und «Beethovn» (2020) wurden nicht weniger gelobt. 2022 erschien sein Jugendroman «Luyánta – Das Jahr in der Unselben Welt». Albrecht Selge lebt als freier Autor und Musikkritiker mit seiner Familie in Berlin.

Im VAN Magazin findet sich ein Essay von Ihnen: «Klassik-Junkie, untot. Wie geht’s eigentlich gerade den Heavy Usern des Klassikbetriebs – den Konzertsüchtigen?» Wer wie Sie drei, manchmal vier Konzerte in der Woche besucht, den darf man wohl selbst einen Konzertsüchtigen nennen. Wie sind Sie – als «Hausmann und Schriftsteller, in dieser Reihenfolge» – durch die eher konzertfreie Corona-Zeit gekommen? 
Japsend und mit Mühe! Ich bin froh, wenn unser Leben sich wieder halbwegs normalisiert. Wobei es schrecklich ist, dass die ewigen Corona-News jetzt durch die grauenhaften Nachrichten aus der überfallenen Ukraine abgelöst wurden. Ich wünschte, ich könnte wie Luyánta herausfinden, wie man Frieden schafft! Sie steht ja vor einer doppelten Herausforderung: Frieden in ihrer Welt schaffen und Frieden in sich selbst. 
Aber was mein kleines persönliches und auch privilegiertes Schicksal angeht: Die konzertfreie Zeit habe ich unter anderem dadurch überstehen können, dass ich vor zwei Jahren wieder mit dem Klavierunterricht begonnen habe. Eine der besten Entscheidungen meines Lebens. Dafür ist es nie zu spät! 

In einem Interview haben Sie einmal erzählt, dass Sie, was Ihre Texte und Themen angeht, eine innere Liste abarbeiten. «Luyánta» liegt nun hinter Ihnen. Dürfen Sie verraten, was vor Ihnen liegt, also: woran Sie gerade arbeiten?
Die Liste ist flexibel und revidierbar, und sie revidiert sich immer weiter. Zwei Romanstoffe, die ich schon lange in mir trage – das sind eigentlich Lebenswerke. Einer über das lebenslange Warten auf die Liebe, das auf unvorhergesehene Weise erfüllt wird, und ein anderer, der vom Abschied von aller Liebe erzählt. Dann etwas, wo ich in konzentrierter Form in zwei Geschichten meiner eigenen Familie bohren möchte. Aber last, but not least, ich könnte mir auch vorstellen, dass die Geschichte Luyántas und der Unselben Welt weitergehen wird. Nein, eigentlich wünsche ich es mir; und auch daran arbeite ich im Kopf bereits. Denn ich habe diese Welt und alle ihre Figuren wahnsinnig ins Herz geschlossen. Also, mal sehen, wie sich diese Pläne sortieren werden …