Ein Schlaganfall, zehn Tage später der zweite, haben ihren Mann aus allem herauskatapultiert, was er bis dahin gelebt hatte. Und aus ihr wird die Frau des Kranken. Der nicht deutlich sprechen, nicht gehen, nicht lesen, nicht schreiben kann – aber nach wie vor wasserhell denkt. Gabriele von Arnim beschreibt in diesem literarischen Text, wie schmal der Grat ist zwischen Fürsorge und Übergriffigkeit, Zuwendung und Herrschsucht.
Das Interview
«Und ich blieb zerfleddert zurück», schreiben Sie in Ihrem Buch, als Ihr Mann nach zehn Jahren Leben in der Krankheit stirbt: Ist man je wieder ganz, wenn man einmal «zerfleddert zurückbleibt»?
Zerfleddert sein hieß für mich auch erst einmal vollkommen orientierungslos zu sein. Ich hatte ja zuvor einen streng geregelten Tag. Auf einmal waren da Tage ohne Aufgabe, ohne Pflicht, ohne Struktur und ohne einen atmenden Menschen neben mir. Und damit konnte ich am Anfang überhaupt nichts anfangen. Hatte mich schon vor seinem Tod davor gefürchtet. Ich dachte, wenn er stirbt, habe ich so viel Zeit, und ich kann diese Zeit überhaupt nicht füllen. Ich weiß nicht, wie man Zeit füllt, obwohl ich ja immer gearbeitet hatte. Aber letztlich lag meine Hauptaufgabe in der Hinwendung zu ihm. Und plötzlich war das weg, und da war die Leere, und da waren diese vielen Fragen: Was soll ich jetzt mit mir, was will das Leben nun von mir und was will ich jetzt eigentlich noch vom Leben?
Wenn man ihr Buch gelesen hat, weiß man, dass Sie einen sehr ehrlichen Blick auf das Erlebte, auf sich selbst haben. Und Sie stellen in einem der letzten Kapitel fest: Das Leben ist ein vorübergehender Zustand. Dies ist auch der Titel Ihres Buchs – wie ist dieser Satz zu Ihnen gekommen?
Wenn ich das wüsste. Irgendwann stand er da. Wir wissen ja alle, dass das Leben vergänglich ist. Aber auf einmal bekam das Vorübergehende eine eigene Dringlichkeit, wurde intensive Wirklichkeit, die mich auch schockierte.
Und der sehr ehrliche Blick – ich bin manchmal ganz erstaunt, wenn die wenigen, die das Buch bisher gelesen haben, immer wieder das Ehrliche des Textes betonen. Ich glaube, ich habe von Anfang an gedacht: Wenn ich darüber schreibe, dann auch so, wie ich glaube, dass es gewesen ist. Was man ja ohnehin nicht weiß, da das Gedächtnis bekanntlich ein trügerischer Agent ist. Aber Ehrlichkeit war für mich eine der Voraussetzungen, auch mir selbst gegenüber. Es ist nicht ohne, ein solches Buch zu schreiben. Ich habe damit etwa zwei Jahre nach seinem Tod schon einmal angefangen und wieder aufgehört, weil es nicht ging. Ich musste erst selbst umgehen können mit dem, was passiert war, bevor ich es erzählen konnte. Ich wollte nie ein selbsttherapeutisches Buch schreiben. Und erst später habe ich begriffen, dass ich offenbar in zwei Phasen schreibe. Zunächst nur für mich, um selbst etwas zu verstehen, und für andere erst, wenn ich hoffentlich etwas verstanden habe. Wenn Angst, Schmerz, Wut, Innigkeit und Verlust in meinem Leben ihren Platz gefunden haben, wenn ich zu mir gekommen, vielleicht sogar genesen bin.
Sie erzählen von Freunden, die aus Ihrem Leben verschwanden, die die Nähe zum Kranken, zur Krankheit scheuten.
Krankheit ist bedrohlich, bedrängend, macht Angst. Und der Zustand meines Mannes war erschreckend. Und was, denken dann viele, wenn auch mir eines Tages so etwas passiert. Und wenn niemand da ist, der sich um mich kümmert. Das sind Dämonen, die man freilässt, Futter für Alpträume. Und selbst wenn man die eigenen Ängste in die Ecke stellt: Wie geht man um mit einem Kranken. Mit dem man nicht reden kann, der klug guckt und leicht sabbert. Ein fast zerstörter Mensch. Das tut weh. Auch vor Schmerz laufen wir ja gern davon. Ich fand es nur oft so – sagen wir – gefühlskarg, wenn Menschen, die uns eigentlich nahestanden, nicht kamen, nichts wissen wollten, wenn sie es nicht einmal versucht haben.
Wer mit ihm war, konnte auch gemeinsam mit ihm diese «sanften Momente» im Leben entdecken, wie Sie im Buch schreiben. Momente, die er früher vielleicht übersehen hätte. In denen er zu Ihnen sagte: «So ist es schön.»
Wenn er gesagt hat «Es ist schön», dann war das eine helle Freude. Das lernt man ja ohnehin in einem reduzierten Zustand, wie die kleinen Momente an Wichtigkeit gewinnen. Der Blumenstrauß, ein gutes Essen, rosafarbene wandernde Wolken, ein Anruf. Wenn er diese kleinen kostbaren Momente wahrgenommen hat und genießen konnte – das war Balsam.
Waren diese kostbaren, sanften Momente auch die Anregung dafür, die Vorleser*innen in Ihr Leben zu holen?
Die Idee der Vorleser*innen war ursprünglich gar nicht meine. Eine Krankenschwester sagte eines Tages: Lesen Sie Ihrem Mann etwas vor, damit der Kopf angeregt wird, erzählen Sie ihm was. Und so bat ich die Freunde, die ihn wunderbarerweise in der Reha besuchen wollten, eine Zeitung mitzubringen und ihm vorzulesen. Eine echte winwin-Situation. Sie wussten, was sie tun konnten für den Kranken und waren erleichtert. Sie konnten sich ja mit ihm, der einst ein so großer Redner gewesen war, nicht unterhalten. Das Vorlesen war die Lösung. Und so habe ich nach und nach einen Kreis von Menschen zusammengesammelt, die ihm vorgelesen haben. Am Ende waren es 17 Leute – und es gab sogar eine Warteliste. Das war genial, er hat sich jeden Tag über und auf diese Vorleser*innen gefreut und gefragt: Wer kommt heute? Er hat sich selbst ausgesucht, was er lesen, was er hören wollte. Er hat sich seinen Lieblingsroman – Albert Vigoleis Thelen, «Die Insel des zweiten Gesichts», über 1000 Seiten – dreimal vorlesen lassen. Eine Vorleserin stellte irgendwann fest, dass jemand anders auch aus dem Buch las, da war ein Eselsohr an der falschen Stelle. Sie war empört: «Das kann nicht Ihr Ernst sein, dass Sie jemand anderen aus diesem Buch lesen lassen! Das ist ja wie Ehebruch!» Danach haben die beiden sich geduzt.
War es schwer, das Schöne zu finden?
Es war eine große Anstrengung in vielen Phasen. Manchmal war ich so verzweifelt, dass ich gar nicht mehr wusste, wo ich irgendwas finden oder suchen sollte. Manchmal war ich so beschwert, dass ich das Wort Heiterkeit gar nicht mehr in den Mund genommen hätte. Aber ich habe immer wieder Schönes gefunden, auch und gerade durch andere Menschen. Eine Freundin konnte so wunderbare Anekdoten erzählen, dass wir kichernd am Tisch saßen, zu dritt. Diese Momente, die einen aus der Schwere herausgehoben haben, waren so wichtig. Waren der Trost, den wir brauchten.
Wie sind Sie damit umgegangen, wenn er untröstlich war?
Manchmal konnte ich versuchen ihn zu trösten, wenn ich selbst Kraft hatte. Dann habe ich versucht, diese trügerische Hoffnung zu leben und ihm zu vermitteln, dass alles besser werden kann. Ich glaube, er hat länger daran geglaubt, gesund werden zu können, als ich. In schlimmsten Momenten bin ich ausgeflippt, weil ich es nicht mehr aushalten konnte. Wir konnten immer schon gut zanken miteinander, aber es wurde in diesem Zustand heikel. Denn ich musste aufpassen, ihn, der sowieso schon so verletzt war, mit Worten nicht noch weiter zu verletzen Das waren schwierige Situationen. Und ich habe sie wahrlich nicht immer gut gemeistert. Auch das erzähle ich in dem Buch.
Was oder wer hat sie getröstet, wenn Sie untröstlich waren?
Letztlich lernt man – was eine gute Übung ist fürs spätere Alleinleben – aus sich selbst den Trost zu holen. Und bei mir war es immer wieder die Literatur. Es waren immer wieder Bücher, die mich herausgeholt haben aus der Schwere, herausgeholt haben aus der Lebenswirklichkeit. Ich konnte dann andere Leben mitleben. Und das hat mich hinweggeführt, hat mir Stunden der Erholung gegeben. Ich kann mir ein Leben ohne Lesen ohnehin nicht vorstellen, aber in diesen zehn Jahren waren die Bücher existenziell.
Können Sie beschreiben, was Ihnen Ihr eigenes Buch bedeutet? War das Schreiben auch ein Prozess des Heilwerdens?
Irgendwann wird das Schreiben wichtiger als das, was man beschreibt. Die Worte, die Dramaturgie, der Sprachfluss. Und die Protagonisten werden zu Figuren. Das war wirklich interessant. Jetzt, wenn ich lese, was ich geschrieben habe, kommen er und ich mir wieder näher. Und ich bin sehr gespannt, wie es weitergeht. Ich weiß nicht genau, was heil werden bedeutet. Der Schmerz wird nie ganz weg gehen. Soll er auch gar nicht, er gehört zum Leben dazu. Ich will weder etwas verdrängen, noch will ich etwas verschönern. Ich empfinde es als fast tröstlich, wenn der Schmerz da ist, dann bin ich jedenfalls nicht dumpf geworden. Das wäre viel schlimmer als jede Erinnerung, die weh tut.
Wünschen Sie sich, dass Ihr Buch eines sein wird, das anderen ein Trost sein kann?
Wenn das geschieht, fände ich es wunderbar, denn ich glaube, dass es mehr Menschen gibt in meiner Situation als man das gemeinhin annimmt. Das Umgehen mit Krankheit, das ist für viele Menschen eine Herausforderung. Wenn dann jemand dieses Buch liest und sagen könnte: Das hat mir jetzt Mut gemacht – wäre ich sehr froh.