Im Gespräch

«Mein Charaktermerkmal ist Trotz …»

Über Affekt und Aufklärung, Reflexion und Ressentiment: ein politisches Tagebuch von Ijoma Mangold

Ijoma Mangold
© Christian Werner

Die Basis, auf der wir jeden Tag Urteile fällen und Entscheidungen treffen, ist schmal und schwankend. Und doch ist sie alles, was wir haben. Die alte Eindeutigkeit ist aus der Politik verschwunden. Sie wurde ersetzt durch Reflexe und Schnappatmung, durch Wut und Widersprüchlichkeit. Doch gerade dieses Unreflektierte, die Affekte, der Stammtisch, der permanent nur für uns selbst in uns zu hören ist, ist das, so Ijoma Mangold, was das Politische im Tiefsten ausmacht. Wie wir zu Meinungen kommen, wie wir es uns gemütlich einrichten mit ihnen und wie wir sie im besten Fall auch mal wieder loswerden – darum geht es in diesem Buch der Selbstbeobachtung. «Der innere Stammtisch» ist ein Text der Zeitdiagnostik – eine Darstellung des politischen Gegenwartstheaters durch einen aufmerksamen Insider und gleichzeitig eine politische Anthropologie.

Das Interview mit Ijoma Mangold

Waren die Debatten um Klimawandel, Fridays For Future, Greta-Idolatrie etc. der Anstoß, sich mit dem Buch «Der innere Stammtisch» in Tagebuchform politisch einzumischen?
Nein, ich möchte mein Buch auch gar nicht als politische Einmischung verstehen, sondern als Selbstbeobachtung von mir als politischem Jedermann. Ich habe irgendwann gemerkt, dass die Art, wie ich über politische Fragen mit Freunden und Kollegen oder auch in der Zeitung rede bzw. schreibe, sich fundamental unterscheidet von der Art, wie ich über diese Fragen im Selbstgespräch nachdenke. Und diese Diskrepanz wollte ich schließen. Ich wollte etwas von diesem inneren Monolog, den jeder kennt, sichtbar machen – in der aufklärerischen Absicht, sich selbst besser zu verstehen und gleichzeitig so einen ehrlicheren politischen Diskurs führen zu können. Wenn wir öffentlich reden, tun wir so, als seien unsere Überzeugungen und Ansichten Ergebnis sachlichen Abwägens von unterschiedlichen Argumenten, dabei wissen wir tief in unserem Inneren, dass wir unsere Wahl schon lange vorher beschlossen haben aufgrund von Intuitionen, Affekten und Ressentiments, aufgrund unseres Charakters und seiner Prägung und Geschichte. Das wollte ich im «Inneren Stammtisch» sichtbar machen.

Sie schreiben an gegen Bigotterie, demonstratives Symbolhandeln und «Gratis-Mut» bei der Inszenierung der eigenen Betroffenheit. Und notieren am 1. März 2020: «Es hat ja immer auch etwas Ordinäres, eine Meinung zu haben.» Ein bisschen kokett ist das schon für einen, der sich mit unbändiger Lust in die aktuellen Meinungskämpfe hineinzuwerfen scheint, oder?
Sie legen den Finger in die Wunde: Das lässt sich schlechterdings nicht abstreiten! Ich kann nur hoffen, dass es in Dantes Inferno keinen Höllenkreis für das Laster der Koketterie gibt.

Es gibt diverse Gäste an Ihrem «inneren Stammtisch», einer ist Boris Johnson: Eton-Zögling, Shabby-Look-Dandy, Großmaul, Politzocker, Bicycle-Bürgermeister von London, Autor des bahnbrechenden Romans «72 Jungfrauen». Halten Sie buntscheckige Charaktere wie Englands aktuellen Premier für eine Bereicherung für die Politsphäre?
Ich leide darunter, mit ansehen zu müssen, wie gewissenlos Boris Johnson das Vereinigte Königreich führt – und ich leide deswegen darunter, weil ich eine Schwäche für so, wie Sie es zu Recht sagen, buntscheckige Charaktere habe. Boris Johnsons Niederlagen sind so gesehen auch meine eigenen.

Weshalb interessiert Sie das zoon politikon als Affektwesen, die «vegetative Ebene des Politischen», die Semantik der Reiz-Reaktions-Schemata im Politischsein so sehr?
Weil der Mensch nicht so sehr ein Vernunftwesen ist, wie er vorgibt zu sein. Ich sehe mich schon als Aufklärer, ich verkläre die Affekte und Ressentiments nicht, aber um Licht ins Dunkel zu bringen, müssen wir sie überhaupt erst einmal anerkennen und zur Kenntnis nehmen und in ihrer psychologischen Feinmechanik beschreiben. Es gibt halt nichts Wunderlicheres als den Menschen.

Ob es um Feminismus, Männermacht oder Machtmänner geht: Mit der Sängerin Helena Goldt haben Sie eine faszinierende zweite Stimme in Ihr Buch geholt. Was macht – Stichwort: Ambiguität – Helena als Gegenüber so interessant, so besonders?
Weil sie ständig Sachen sagt, bei denen man stutzt, weil man nicht weiß: Ist das jetzt reaktionär oder ganz und gar anarchisch? Dekadent oder hyperprogressiv? Ich bewundere Helena für diese totale innere Freiheit und Unerschrockenheit. Es ist ihr egal, in welche Schubladen sie eingeordnet werden könnte. Und deswegen ist das, was sie an der Welt beobachtet, auch immer überraschend, und man fühlt sich danach so wach wie nach einem Bad in einem erfrischend kalten See. Außerdem ist Diversity ja heutzutage ein hoher Wert. Ich kenne niemanden mit einer so diversen Biographie wie Helena: Russlanddeutsche, die in Kasachstan aufwuchs, bis sie mit 7 Jahren nach Deutschland zog, ins Fränkische, sodass ich mir nie sicher bin, ob ihr rollendes R ein fränkisches oder ein russisches ist. Lustigerweise gelten Russlanddeutsche im öffentlichen Diskurs nun gerade nicht als Verkörperungen von Diversity, sondern als potenzielle AfD-Wähler. Das mal anders zu perspektivieren, fand ich reizvoll.

Wie gefährlich finden Sie Corona-Demos wie die an jenen Wochenende in Berlin, wo sich von Ottonormalbesorgten über Esoteriker, QAnon-Gläubige und militante Rechtsextreme eine krude Gemengelage in der Öffentlichkeit zeigt?
Ach, unschön, aber nur so mittel gefährlich. Für politische Gefühle gilt das Motto jedes Sommerschlussverkaufs: Alles muss raus. Will sagen: Dieses Krude brodelt nun mal in den Köpfen und Bäuchen der Menschen, psychohygienisch scheint es mir immer besser, wenn es sich öffentlich ausspricht und zeigt, als wenn es unterm Deckel brodelt. Wenn allerdings die Treppen des Reichstags erklommen werden, bin ich stolz auf die Polizisten, die dieses höchste Verfassungsorgan unseres Volkes beherzt verteidigen. Irgendwo hört der Spaß auf.

Rechtes Lager: Anti-PC. Linkes Lager: Woke-Verfechter. Sie konstatieren einen «Drift hysterisierter öffentlicher Diskurse zur Lagerbildung». Und stellen dies als «Ziel» dagegen: «Mehr Nicht-Wissen, mehr Ambivalenz, mehr Zweideutigkeit zulassen.» Wie geht das zusammen?
Ich sehe den Zielkonflikt nicht, im Gegenteil: Je bewusster wir uns unserer eigenen Ambivalenzen sind, je klarer wir die Begrenztheiten unseres eigenen Wissens, pathetisch gesprochen: unsere eigene Fehlbarkeit sehen, umso weniger dürften wir zur Dämonisierung derer neigen, die die Dinge anders sehen als wir selbst.

Wenn Sarah Wiener für die Grünen im Europaparlament sitzt, wieso dann nicht auch irgendwann Ijoma Mangold im Bundestag? Wäre interessant, weil …
Weil ich besser koche. Just kidding.

Der innere Stammtisch

Ijoma Mangold führt ein politisches Tagebuch und notiert darin die Ereignisse unserer Gegenwart. Er beschreibt, was er auf der Weihnachtsfeier der «Zeit» und am Rande der Berlinale erlebt, dass sein Sportlehrer sich nie angeschnallt hat und warum Greta ihn triggert. Im Januar erklärt Helena, eine russlanddeutsche Bekannte, ihm ihren Feminismus, im Februar denkt er über das Wahlergebnis in Hamburg nach, im März stellt er fest, dass der «Decamerone» bei Dussmann ausverkauft ist. Wegen Corona. Verwundert blickt er auf die, denen einerseits «Tugendterror» oder «Multikulti-Romantik», andererseits «Agism» oder «Faschismus» leicht von den Lippen gehen. Deutlich wird bei seinen Begegnungen, dass die Basis, auf der wir jeden Tag Urteile fällen und Entscheidungen treffen, schmal und schwankend ist. Und doch ist sie alles, was wir haben.

Die alte Eindeutigkeit ist aus der Politik verschwunden. Sie wurde ersetzt durch Reflexe und Schnappatmung, durch Wut und Widersprüchlichkeit. Doch gerade dieses Unreflektierte, die Affekte, der Stammtisch, der permanent nur für uns selbst in uns zu hören ist, ist das, so Mangold, was das Politische im Tiefsten ausmacht. Wie wir zu Meinungen kommen, wie wir es uns gemütlich einrichten mit ihnen und wie wir sie im besten Fall auch mal wieder loswerden – darum geht es in diesem Buch der Selbstbeobachtung. Es ist ein Text der Zeitdiagnostik entstanden, der eine Darstellung des politischen Gegenwartstheaters durch einen aufmerksamen Insider ist und gleichzeitig eine politische Anthropologie.



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Ijoma Mangold

Ijoma Mangold, geboren 1971 in Heidelberg, studierte Literaturwissenschaft und Philosophie in München und Bologna. Nach Stationen bei der „Berliner Zeitung“ und der „Süddeutschen Zeitung“ wechselte er 2009 zur Wochenzeitung „Die Zeit“, deren Literaturchef er von 2013 bis 2018 war. Inzwischen ist er Kulturpolitischer Korrespondent der Zeitung. Zusammen mit Amelie Fried moderierte er die ZDF-Sendung „Die Vorleser“. Außerdem gehört er zum Kritiker-Quartett der Sendung „lesenswert“ des SWR-Fernsehens. 2017 erschien „Das deutsche Krokodil“. Mangold lebt in Berlin.