Dreißig Jahre nach Mauerfall und Wiedervereinigung machen sich Lucas Vogelsang und Joachim Król auf eine Deutschlandreise und sammeln Geschichten von Menschen, deren Leben 1989 noch einmal neu begannen. Ihnen begegnen schier unglaubliche Biographien voller Brüche, Neuanfänge und Sackgassen, die von Bundesrepublik und DDR, von Wende und deutscher Gegenwart erzählen. Diese literarische Reisereportage beginnt im Ruhrgebiet und endet an der Ostsee. Im Gepäck die Fragen: Wo hat die Mauer überdauert, wo wurden Grenzen verwischt? Wie viel Osten und Westen gibt es noch in den Köpfen? Die Antworten finden sie am Wohnzimmertisch oder im Wachturm: Król, der staunende Gesprächspartner. Und Vogelsang, der geschliffene Chronist.
DAS INTERVIEW
Sie haben Joachim Król zum ersten Mal im Hamburger Schauspielhaus im Mai 2009 getroffen, nach einer Lesung des Schauspielers. Wieso hat es von jenem Abend an noch fast zehn Jahre gedauert, bis Sie beide zu Ihrer großen Ost-West-Grenzerkundung aufgebrochen sind?
Lucas Vogelsang: Weil es erst jetzt wirklich gepasst hat. Der Mauerfall ist dreißig Jahre her, die Mauer damit länger weg, als sie stand. Es war einfach ein guter Zeitpunkt, um loszufahren. Entscheidend aber war, dass wir uns nie so richtig aus den Augen verloren haben. Und immer wussten, dass wir diese Reise irgendwann gemeinsam unternehmen werden.
Kaum hat man den Prolog des Buches gelesen, möchte man am liebsten schnell noch einmal Detlev Bucks wunderbaren Film «Wir können auch anders» (1989) anschauen – mit Ihnen und Horst Krause in den Hauptrollen. Ein wildes Roadmovie, eine moderne Simplicissimus-Geschichte im Wendechaos, voller Komik und Wärme. Für dieses Buch sind Sie dem Film hinterhergereist: geographisch, politisch, emotional. War das von Anfang an der Plan?
Joachim Król: Jein. Das ist ja erst mal nur die halbe Wahrheit. Der Film, die Idee, die Reise von Kipp und Most noch einmal zu machen, das war nur der zündende Funke. Irgendwo muss man ja anfangen. Über weite Strecken sind wir aber auch meinen eigenen Reisen gefolgt, den Wegen, die meine Generation in den Osten gebracht haben. Als Tramper nach Westberlin, durch den Transit, Daumen raus und so. Deshalb sind wir nach Marienborn gefahren, wo sie damals meinen Audi 80 auseinandergenommen haben, deshalb sind wir nach Michendorf gefahren, der letzten Ost-Raststätte vor Berlin, Mitropa und Krimsekt. Da bin ich auch auf meine eigenen Erinnerungen getroffen.
Was mir beim Lesen nicht klargeworden ist: War es eigentlich eine (längere) Reise, die Sie unternommen haben? Oder sind Sie in mehreren Anläufen losgefahren, um «der Grenze nachzuspüren» und «in Ruhe rückwärtszudenken»?
Vogelsang: Wir sind, über mehrere Wochen verteilt, immer wieder losgefahren. Mal ein oder zwei Tage am Stück, mal auf Zuruf. Immer dann, wenn es unsere Zeit und vor allem die Zeit der Protagonisten zugelassen hat. Da mussten wir viele Unwägbarkeiten berücksichtigen. Da konnten wir gar nicht anders. Aber dieses Fragmentarische macht diese Reise auch aus. Am Ende waren wir drei Wochen unterwegs, die Menschen und ihre Geschichten allerdings haben uns ein ganzes Jahr lang begleitet.
«30 Jahre, Mannmannmann», dieser ungläubige Stoßseufzer von Ihnen zieht sich wie ein Mantra durch das Buch. Mit welchem Bild vom mentalen deutsch-deutschen Status quo sind Sie beide aufgebrochen? Und – wie überrascht waren Sie, dass auch 30 Jahre nach Mauerfall und Wende für viele Ihrer Gesprächspartner «der Westen immer noch drüben und der Osten immer noch hintendran» ist?
Król: So habe ich gar nicht gedacht und hatte diesbezüglich auch keine Erwartungen. Wenn man mit Erwartungen in ein solches Projekt geht, schränkt man sich ja schon vorher ein. Die Gegensätze, Jammerossi und Besserwessi, waren für mich deshalb auch gar nicht so entscheidend. Wirklich überraschend war etwas anderes. Auf dieser Reise habe ich gelernt, dass es gar nicht die eine DDR gab, weil die Realität in den Städten eine ganz andere war als jene auf dem Land.
Ursula Thom, Ex-Polizistin und «Winkermieze»; Andreas Malugas DDR-Nostalgiemuseum in Wattenscheid; der Bergmann Reiner Orlowski; der Grenzer Peter Grüschow; Freiherr und Freifrau von Bodenhausen (die «Wossis»); Cornelia Wirth, jahrzehntelang bis zur Abwicklung «Kellner» in der Raststätte Michendorf-Süd ... Wie findet man solche Menschen mit solchen Biographien – alles Zufallsbegegnungen?
Vogelsang: Nein, der Zufall wurde erst später zum Beifahrer. In der Vorbereitung einer solchen Reise ist es vor allem Handwerk, Recherche. Ich habe mich ganz zu Beginn gefragt, was wir brauchen, damit dieses Buch rund wird. Dabei gab es zwei Ansätze, denen ich gefolgt bin. Zum einen den der Route, da hat die A 2 tatsächlich die Richtung vorgegeben. Als Lebensader, als Biographiebeschleuniger. Zum anderen habe ich mich an Joachims Erzählungen orientiert. Am Ruhrgebiet, an der Geschichte seines Vaters, der Bergmann war, an den Erlebnissen des Trampers und an seiner großen Liebe für den Fußball und an seiner Idee vom Aufbau West. Das waren die Nadeln, die ich in die Landkarte stechen konnte. Von dort aus habe ich mich dann auf die Suche gemacht.
«Wir sind ein Volk» ist eine längst schal gewordene Parole. Es wäre ein Leichtes gewesen, dieses komplizierte «Ost-West-Ding» mit der aktuellen politischen Situation (AfD, Rechtspopulismus, Rechtsextremismus) kurzzuschließen. Darauf haben Sie bewusst verzichtet, zumindest wird das an keiner Stelle explizit thematisiert – weshalb?
Król: Wir wären einer solchen Begegnung gegenüber durchaus offen gewesen, aber wir wollten sie auch nicht erzwingen. Es sollte keine Reise zu den neuen Rechten werden, keine Nazi-Safari, wie es Lucas Vogelsang einmal genannt hat. Natürlich haben wir dieses Thema in einigen Gesprächen berührt, aber es hatte in der Lebenswirklichkeit unserer Protagonisten eher keine Relevanz.
Als schreibender Chronist dieser deutsch-deutschen Reise treten Sie hinter der Person Joachim Króls zurück, bleiben quasi im Halbschatten des prominenten Schauspielers. Und doch spürt man als Leser, dass da zwei Freunde unterwegs waren: zwei Neugierige, zwei Suchende. Wie haben Sie Ihre Rolle in dem «Setting» gesehen?
Vogelsang: Es war mir von Beginn an klar, dass meine Rolle die des Beobachters sein wird. Joachim sollte der Suchende sein, der Fragende. Und ich wollte ihm dabei über die Schulter schauen, einfach alles mitschreiben. Dieser eine Schritt zurück hat es mir ermöglicht, noch genauer hinzuhören, während Joachim mit seinen eigenen Anekdoten, seiner Zeitzeugenschaft wiederum als Katalysator für die Erzählungen der anderen wirken konnte. Wir haben uns da tatsächlich gut ergänzt. Der Halbschatten ist ein guter Ort, um einen kühlen Kopf zu bewahren. Und das Bierchen danach haben wir ohnehin gemeinsam in der Sonne getrunken.
Ein Satz von Ihnen am Ende des Buches bleibt hängen: «Eigentlich ist es beschämend, wie wenig man hiermit zu tun hat, als Wessis, wie fremd mir dieses Land ist.» Was genau macht dieses Fremdheitsgefühl für Sie aus? Ich frage das, weil vermutlich vielen Leser*innen nach der Lektüre Ihres Buches «der Osten» mit all seinen Be- und Empfindlichkeiten viel weniger fremd und unbegreiflich vorkommen dürfte ...
Król: So ging es mir nach der Reise ja auch. Der Wissensstand war danach ein anderer. Vorher war es ein fremder Ort, ein schwarzer Fleck auf der Landkarte. Der Osten, das klingt schon anders. Die Orte, die Dialekte dazu. Ich bin eben nie dorthin gereist, ich bin nach 1992 immer auf vertrauten Wegen geblieben. Das aber war keine bewusste Entscheidung gegen den Osten, es hat sich vielmehr so ergeben. Lucas Vogelsang hat als Berliner gleich eine ganz andere Nähe zum Osten, der hatte sogar eine Datsche in Brandenburg. Aber als Kölner, als echter Wessi, gibt es allein durch die Entfernung eine andere Distanz. Die Reise hat da allerdings viel Licht ins Dunkel gebracht.
Gibt es einen Moment – eine Begegnung, einen Satz, ein Bild –, in dem sich für Sie die Essenz der ganzen Reise verdichtet?
Vogelsang & Król: Als wir in Michendorf angekommen sind, am ehemaligen Rasthof, da war die Conny, 36 Jahre lang Kellnerin, Überzeugungsbrandenburgerin, ein bisschen enttäuscht. Weil der Joachim ohne Horst Krause gekommen war. Den Krause, den mochte sie, der hatte sie 30 Jahre lang begleitet. Den Joachim aber kannte sie nur vom Sehen. Genau dort, zwischen Krause und Król, verlief in diesem Moment die Grenze.