Eine Kindheit um 1960, in einer Stadt, nicht groß, nicht klein. Der Vater ist Gefängnisdirektor. Der Krieg ist noch nicht lange her, und die Eltern versuchen, durch Hingabe an klassische Musik und Literatur nachzuholen, was sie ihre verlorenen Jahre nennen. Überall spürt der Junge – er ist zwölf – Risse in dieser geordneten Welt. Immer häufiger flüchtet er sich in die Welt der Phantasie. Gebannt verfolgt er die politischen Auseinandersetzungen seiner älteren Brüder mit Vater und Mutter. Dieser Junge, den der Autor als fernen Bruder seiner selbst betrachtet, erzählt uns sein Leben und entdeckt dabei den eigenen Blick auf die Welt. – Edgar Selges Erzählton ist atemlos, körperlich, risikoreich, voller Witz und Musikalität. «Das herausragende Debüt dieses Herbsts» (Tobias Rüther, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung)
DAS INTERVIEW
Aufgewachsen als Sohn eines Gefängnisdirektors in unmittelbarer Nähe zur Jugendstrafanstalt; in einer Familie, in der klassische Musik und Literatur eine tragende Rolle spielen; der Krieg ist noch nicht lange vorbei: «Hast du uns endlich gefunden» ist aus der Perspektive eines 12-jährigen Jungen geschrieben. Weshalb?
Dieser Text versucht, ein genaues Gesellschaftsbild einer Familie um 1960 zu erzählen. Dabei spielt die Spannung zwischen feingeistiger musischer Bildung und Verwurzelung in nationalsozialistisch-wilhelminischem Denken eine große Rolle. Die Erzählperspektive des zwölfjährigen Jungen ermöglicht eine schonungslose und zugleich verletzliche Beobachtung. Die Erwachsenen dieser Jahre weichen den unangenehmen Fragen zu ihrem Verhalten in der Nazizeit gern aus, indem sie den Scheinwerfer auf das moralische Wohlverhalten ihrer Kinder richten. Deshalb ist das Innenleben eines Kindes der beste Seismograph für die Ambivalenz der Eltern.
Mit dem Abstand von mehr als einem halben Jahrhundert – wie nah fühlen Sie sich heute diesem Jungen, den Sie einen «fernen Bruder» nennen?
Erst im Alter habe ich den Mut gefunden, auf meine Kindheit zurückzublicken. Dabei habe ich gespürt: Der 73-Jährige zieht aus der Vitalität dieses Jungen immer noch sehr viel Kraft. Dieser Text ist nicht die Klage eines Opfers, im Gegenteil, er ist das Selbstporträt eines Stehaufmännchens. Schlimmste Erniedrigungen versucht dieses Kind in einen Sieg der Phantasie umzumünzen. Daraus entsteht eine problematische Disposition, die sich aber für einen Ausdrucksberuf als durchaus fruchtbar erweisen kann.
Dieses Buch zu schreiben sei ebenso harte körperliche Arbeit wie die Schauspielerei gewesen, sagen Sie. Wie lange schon verspürten Sie den Wunsch zu schreiben?
Harte körperliche Arbeit? Na ja, ich muss auf meinen Körper hören, wenn der Ausbruch aus Zwang und Isolation gelingen soll. Aggression spielt dabei eine große Rolle, aber auch das Bedürfnis, sich zu öffnen und ein Resonanzraum für andere Menschen zu sein. Und dabei denke ich eher an meinen Kreislauf, meinen Atem, meine Muskulatur, meine Nerven und weniger an mein Hirn. Ich bilde mir ein, die Gedanken kommen von selbst, wenn mein Körper sich beruhigen kann.
Offenbar schützt auch die Liebe zu Literatur, Kunst und Musik eine gutbürgerliche Familie nicht vor Antisemitismus. Gegen die politischen Ressentiments der Eltern opponieren die älteren Brüder mit aller Heftigkeit. Wie erlebt das 12-jährige Kind diesen Konflikt?
Voller Spannung. Mit-leidend und mit-verletzend. Und dabei: ständig die Seiten wechselnd. So wie ich mir bei Siegfrieds Kampf mit dem Drachen wünsche, dass er nie endet. Denn Siege sind langweilig.
In den 1950er und 1960er Jahren war die körperliche Züchtigung in Familie und Schule eher die Regel als die Ausnahme, das war auch bei dem jungen Edgar nicht anders. Es klingt, als würden die Schläge von damals ihn bis heute quälen …
Quälend sind nicht die Schläge, sondern der Widerstreit im Gefühl für den Peiniger. Liebe und Abscheu: Wenn beides da ist, will ich mich nicht entscheiden.
Klassisch-romantische Musik spielt in der Familie eine große Rolle. Für die Beatles, Stones und Doors war der zwölfjährige Edgar des Buches (knapp) zu jung. Aber hat die «Musik der Revolte» später bei Ihnen eine Rolle gespielt?
Ja, für den Zwanzigjährigen hat diese Musik eine große Rolle gespielt. Auch Pink Floyd, Amon Düül, Frank Zappa, später auch Joan Armatrading, Eartha Kitt, Bob Dylan. Trotzdem: In meiner empfindsamsten Zeit waren eben Schumann und Schubert zur Stelle. Und wie die Loreley hat diese Musik mit ihrem speziellen Zauber meinen Lebensweg bestimmt und zu einem verführerischen Gefängnis gemacht.
Wer Ihr Buch gelesen hat, kann sich nur schwer vorstellen, dass es bei diesem literarischen Debüt bleiben wird. Schwebt Ihnen schon ein neuer Stoff vor, dem Sie sich schreibend nähern möchten?
Ja klar. Nach fünf Jahren manischem Schreiben kann ich nicht aufhören und werde mir einen Stoff und eine Figur suchen, die mir wiederum verwandt sind, aber weniger autobiographisch.