Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit ist ein neues, einflussreiches rechtes Netzwerk aus Stiftungen, Vereinen, Medien und Kampagnen in Deutschland herangewachsen. Seit Jahren spüren die ZEIT-Reporter Christian Fuchs und Paul Middelhoff ihm nach: seinen öffentlichen Seiten und denen, die im Dunkeln liegen. Ihr Report enthüllt zum ersten Mal das ganze Ausmaß des Milieus – die ideologischen Grundlagen, die führenden Köpfe, die wichtigen Zeitschriften, Verlage, Internet-Plattformen, die geheimen Finanziers. Viele Verbindungen führen zur AfD, die zum Gravitationszentrum der Strömung geworden ist. Die Autoren zeigen, wie die Neue Rechte versucht, die gesellschaftliche Mitte zu übernehmen. Ihre Erkenntnisse sind alarmierend.
Das Interview
Das Spektrum des rechten Milieus ist facettenreich, es reicht von den militanten Rassisten rechts außen über die Gauland/Weidel/Storchs bis zu den smarten Rechtsintellektuellen der Identitären Bewegung. Spielen eigentlich die Nazis klassischer Couleur, die Hitler-Verehrer und Holocaust-Leugner, heute überhaupt noch eine relevante Rolle?
Ob die Guerilla-Aktivist*innen der Identitären alle besonders intellektuelle Geistesgrößen sind, mag ich bezweifeln – viele entstammen gewaltaffinen rechtsradikalen Neonazi-Strukturen. Aber zu Ihrer Frage: Die «alten» Neonazis aus Kameradschaften, Wehrsportlagern, der NPD oder völkische Siedler gibt es selbstverständlich immer noch – sie sind parteipolitisch nur durch die AfD kannibalisiert worden, sind aber weiterhin gefährlich. Sie stählen sich heute mit Kampfsport, treffen sich auf Rechtsrock-Festivals und haben sich neue gesellschaftliche Nischen gesucht: Beispielsweise gründen sie vermehrt braune Unternehmen und bauen so ein rechtsextremes Wirtschaftsnetzwerk auf. Das Spektrum der extremen Rechten wurde durch die Neue Rechte lediglich um eine Ausprägung erweitert.
«Ethnopluralismus», «Kulturkampf gegen den Islam», «Großer Austausch»: Mit Theoremen dieser Art verkörpern die Identitären den «Geist von Schnellroda», wo Götz Kubitschek mit dem Institut für Staatspolitik an der Blaupause der Revolte arbeitet. In den Aktions- und Agitationsformen, dem Styling, dem Avantgarde-Habitus grenzen sich die Identitären demonstrativ ab von der alten Rechten. Welches Kalkül steckt dahinter?
Mit ihrer Ablehnung von Holocaust, plattem Judenhass und biologischem Rassismus versucht die Neue Rechte, eine Art «dritten Weg» zu konstruieren und damit Menschen anzusprechen, für die Hitler, SA und Wehrmacht ewiggestrig erscheinen. Damit versucht sie, enttäuschte Konservative zu gewinnen. Und junge Menschen sollen mit rechtem Rap, Hipster-Image und «patriotischen» Instagram-Stars angesprochen werden. Undercut statt Glatze, Jutebeutel statt Bomberjacke und «Club Mate» statt Bierbesäufnis heißt die Devise. Die Aktionsformen – wie «Hausprojekte», «Infoläden» oder Guerilla-Besetzungen von öffentlichen Gebäuden – und ihr Konzept der Eroberung der «kulturellen Hegemonie», das vom Marxisten Antonio Gramsci stammt, sind überraschenderweise linke Ideen, die sie sich angeeignet haben. Dazu stellen sie ein paar Theorien der «Konservativen Revolution» der 1920er und 1930er Jahre und basteln daraus eine neue rechte «Bewegung». Im Kern sind ihre Konzepte jedoch weiterhin rassistisch und gegen Minderheiten, die parlamentarische Demokratie und die offene Gesellschaft gerichtet.
«Das wird man ja wohl noch sagen dürfen ...»: Ein zentraler Hebel neurechter Agitation ist die Diskursverschiebung. Das Ziel: Entsolidarisierung der gesellschaftlichen Mitte, Projektion der Modernisierungsverunsicherung auf «feindliche Invasoren». Was glauben Sie – wie mehrheitsfähig ist eine solche Politik angesichts der Krise der alten Volksparteien?
Skurrilerweise inszenieren sich Vertreter*innen der Neuen Rechten oft als Opfer von Zensur und unterdrückter Meinungsfreiheit – obwohl sie an den ersten Adressen der Republik demonstrieren dürfen, in alle wichtigen TV-Shows der öffentlich-rechtlichen Sender eingeladen werden und extreme Positionen am Rand der Verfassungsmäßigkeit in ihrem stetig wachsenden Blätterwald und ihren Online-Portalen verbreiten. Diese Behauptung wird von Enttäuschten geglaubt. Damit sprechen sie eine Gruppe von bis zu 20 Prozent der Bevölkerung an, die an den etablierten Parteien, Medien und der Wirtschaft zweifeln.
Sieht man von brutalen Gedankenspielen wie der bewaffneten Abwehr illegaler Immigranten an den deutschen Außengrenzen ab, hat sich die AfD diesbezüglich eher zurückgehalten. Wie schätzen Sie generell die Gewaltbereitschaft der Neuen Rechten ein?
Die gesamte Strömung ist sicher nicht per se gewaltbereit. Aber in ihren Veröffentlichungen sprechen einige Vordenker offen von «Umsturz» und «Abschaffung des Systems», im Zweifel auch mit Gewalt. Einige Mitglieder der Identitären Bewegung sind zudem bereits mit Übergriffen auf Andersdenkende aufgefallen und besitzen Waffen.
Stimmt der Eindruck, dass die bürgerlichen und linksliberalen Parteien aktuell vor allem eines tun: auf die immensen Wahlerfolge der AfD zu starren, anstatt zu realisieren, dass sich um die AfD als parlamentarischer Arm der Bewegung ein gefährliches, strategisch agierendes rechtes Netzwerk etabliert hat?
Das war sicher nach den ersten Überraschungserfolgen der AfD bei den Landtagswahlen und der Bundestagswahl so. Mittlerweile sehen wir immer häufiger auch sehr gut vorbereitete Politiker*innen anderer Parteien, die die Argumente und falschen Behauptungen der AfD im Parlament auseinandernehmen. Viel wichtiger als die einseitige Fixierung auf eine Partei am rechten Rand wäre jedoch ein neue progressive Vision für unser Land: ein neues, weltoffenes, liberales und gerechtes Angebot der Demokraten als echte Alternative gegen das rückwärtsgewandte Weltbild der Neuen Rechten.
Eine Frage zum Schluss: Wie hält man langjährige Recherchen im rechtsextremen Milieu aus, ohne depressiv zu werden und seinen Zukunftsoptimismus zu verlieren? Und: Wie gefährlich ist für Sie beide als investigativ arbeitende Journalisten die Beschäftigung mit dem rechten Netzwerk?
Eine gute Frage. Eine fröhliche Familie und Freund*innen mit Humor helfen extrem, nicht nur schwarzzusehen – und tolle Kolleg*innen innerhalb und außerhalb der ZEIT, mit denen wir uns austauschen können, wenn wir wegen unserer Recherchen mal wieder verklagt, beschimpft oder mit dem Tod bedroht werden. Außerdem reisen wir beide sehr gern. Wenn man die Probleme in anderen Ländern sieht, relativiert sich vieles. Kritischen Journalist*innen zum Beispiel in Russland, Saudi-Arabien, der Ukraine, im Kongo, in Tadschikistan, der Türkei oder China, die für die Verteidigung der Pressefreiheit täglich ihr Leben riskieren, gelten unser Respekt und unsere Solidarität.