Henny Unger feiert einen runden Geburtstag, siebzig Jahre ist sie geworden. So alt wie das Jahrhundert. Beim Gartenfest an ihrer Seite: die Freundinnen Käthe, Lina und Ida – wie seit Jahrzehnten schon. Aus den vier Freundinnen sind Mütter und Großmütter geworden. Hennys Enkelin Katja träumt davon, als Fotoreporterin um die Welt zu reisen, Idas Tochter Florentine kehrt mit einer Überraschung nach Hamburg zurück. Und auch Ruth, die Adoptivtochter von Käthe, ist fester Teil des Freundschaftsbunds. Denn zu Hennys großer Freude führt die nächste Generation die Tradition fort: Sie teilen Glück und Leid miteinander, die kleinen und die großen Momente … Vom Deutschen Herbst über die Wiedervereinigung bis zur Jahrtausendwende – anhand der vier Familien aus Uhlenhorst erzählt Carmen Korn ein Jahrhundert bewegter deutscher Geschichte.
Das Interview
Liebe Carmen Korn, muss man sich Sorgen um Sie machen? Liest man Ihren Großroman, dann spürt man: Mit Ihren Figuren, mit Henny und Lina, Ida und Käthe, mit Theo und Katja, Klaus und Alex verbindet Sie mehr als Empathie – das kann man schon Liebe nennen. Aber weil unser aller Leben endlich ist, steht am Ende von Band III für manche Ihrer Protagonist*innen der Tod. Wie schaffen Sie es, vor Wehmut und Abschiedsschmerz nicht in ein tiefes dunkles Loch zu stürzen?
O ja. Wehmut und Abschiedsschmerz. Ich liebe meine Figuren. Und sie fehlen mir, ein Gefühl, das wohl noch heftiger werden wird, wenn die Arbeiten am dritten Band abgeschlossen sind. Woran ich knabbere, ist, dass ich sie allein lasse in der Silvesternacht des Jahres 1999, ihnen die Chance auf ein Weiterleben nehme. Überall sind ihre Spuren, wenn ich durch das Viertel gehe, in dem ich seit September 1976 lebe. Das Haus Ecke Schwanenwik/Uhlenhorster Weg, das 1954 gebaut wurde und in dem Alex und Klaus ihr gemeinsames Leben verbracht haben, bröckelt im Jahr 2018 leicht vor sich hin, doch ich versäume nie, zu der Dachterrasse hochzuschauen, als ob Klaus da gerade Gin Tonic und eine Schale Oliven serviert. Dann würde ich gerne klingeln. Durch die Körnerstraße kann ich gar nicht fahren, ohne einen Blick auf das kleine Stadthaus zu werfen, in dem Theo und Henny lebten und jetzt wohl Konstantin. Auch an der Wohnung von Katja komme ich oft vorbei, gedenke wehmütig der Samanthas, die da lange ihren indischen Laden betrieben. Manch Sommerfähnchen habe ich dort gekauft, im Laufe der Jahre oft das gleiche Modell zu immer neuen Preisen, weil sich Helga Samantha nie erinnerte, was sie beim letzten Kauf verlangt hatte …
Sie haben – ganz nebenbei – mit Ihrem Roman auch der Frauenklinik (damals: Entbindungsanstalt) Finkenau ein literarisches Denkmal gesetzt. Das erste Kind wurde dort im Juli 1914 geboren, geschlossen wurde die Klinik aus Kostengründen 2000. Im vornehmen Stadtteil Uhlenhorst war sie zunächst nicht so gern gesehen, wie einem Artikel des Hamburger Abendblatts zu entnehmen ist: «Eine Entbindungsanstalt, in der hauptsächlich Prostituierte und arme Frauen ihre Kinder zur Welt brachten, wollte man dort nicht haben.» Finkenau, Alsterpavillon, die legendäre Buchhandlung Felix Jud … Hatten Sie eigentlich immer schon dieses Faible für Hamburger Lokalhistorie?
Ja. Seit ich 1975 nach Hamburg kam, um hier zu leben. Anfangs habe ich gefremdelt, fand die Stadt spröde, verglichen mit Köln und München, wo ich vorher gelebt hatte. Doch das hat sich sehr schnell geändert, ich möchte in keiner anderen mehr leben. Die Liebeserklärung, die Henny am Ende von Band III der Stadt Hamburg macht, die kommt mir aus ganzem Herzen. Vielleicht lag es auch am Fremdeln, dass ich nach kleinen Ankern gesucht habe, an denen ich mich in Hamburg festmachen konnte. Dazu gehörte die Buchhandlung von Felix Jud im Neuen Wall, oft kam mir Felix Jud im feinen Anzug entgegen, empfing mich, als sei ich seine beste Kundin und nicht eine junge Frau mit einem bescheidenen Budget. Der Alsterpavillon war damals ein gediegenes Lokal, doch das gefiel mir gut als Ausgleich zu der ein wenig nachlässig geführten WG, in der ich lebte. Ein anderer wichtiger Ort (der nur in Band I erwähnt wird) wurde das Cuneo auf der Davidstraße. Dort habe ich mich sehr wohlgefühlt, das ist auch heute nicht anders, obwohl ich viel zu selten hinkomme. In den 80er Jahren, als mein Mann und ich Redakteure beim Stern waren, war es ein zweites Zuhause. Auf die Finkenau habe ich oft einen Blick geworfen, wenn ich unsere Tochter aus dem nahen Kindergarten abholte. Ich habe die Klinik als Patientin erlebt, wenn auch leider unsere Kinder nicht dort geboren worden sind. Das hätte ich mit dem Wissen von heute anders geplant.
Man kann, finde ich, durchaus geteilter Meinung sein, ob eher das Frauenquartett mit Henny, Lina, Ida und Käthe oder das Männertriumvirat mit Klaus, seinem Lebensgefährten Alex Kortenbach und Robert, dem «Husky», die stärksten, facettenreichsten Figuren Ihrer Trilogie sind. Hat sich eigentlich im Laufe des langen Schreibprozesses für Sie eine Lieblingsfigur unter all den Lieblingsfiguren herauskristallisiert?
Henny und Käthe waren die ersten Figuren, die ich entwickelt habe, darum standen sie mir besonders nahe. Am Anfang vor allem Käthe, Henny war mir zu brav, doch das hat sich dann ja sehr geändert, spätestens seit ihrem Leben an der Seite von Theo. Da ist Henny mir eine der nächsten und wichtigsten Figuren geworden. Weil sie die Familie und die Freundesrunde so gut zusammenhält, daran liegt mir in meinem eigenen Leben ebenfalls enorm viel. Idas Verhalten hat mich oft einfach geärgert, obwohl ich auch nicht ganz frei von Allüren bin – und Lina ist mir später sehr nahegekommen. Wie sie da mit dem roten Jaguar vom Hof in Fahretoft braust, das hat mir gut gefallen. Tja, die Männer. Die liegen mir wahrlich am Herzen. Theo. Kurt Landmann. Rudi. Und dann das Triumvirat Klaus, Alex, Robert. In einen von ihnen bin ich nach wie vor sehr verliebt, aus historischen Gründen. Aber so geht es auch bezeichnende Reaktionen von Leserinnen: «Theo, mit dem wäre ich ja gern verheiratet.» «Kannst du mir mal die Telefonnummer vom Husky geben?» Das sind Sätze, die ich öfter bei meinen Lesungen höre.
Es gibt daneben ja noch ein anderes Triumvirat, und das sind Florentine, Katja, Ruth. Die drei Frauen haben sich immer mehr in mein Herz gespielt. Bei ihrem weiteren Leben wäre ich sehr gerne noch dabei.
Ich habe noch nie ein Buch mit so vielen Jazzreferenzen gelesen; Ihre Hamburger Trilogie ist eine einzige Hommage an den Jazz. Das Newport Jazz Festival kommt vor, Montreux, große Interpreten, legendäre Stücke, unvergessliche Songlines: Ella Fitzgerald, Billie Holiday, George Gershwin, Chet Baker, Oscar Peterson, Sarah Vaughan, Stéphane Grappelli, Nina Simone. Was bedeutet Jazz für Sie? Hören Sie eigentlich auch neueren Jazz – Kamasi Washington, E.S.T., Gregory Porter, was auch immer?
Ich mag Michael Wollny sehr. Und fast zähle ich Keith Jarrett zum neueren Jazz. Doch die genannten Sänger und Musiker sind mir schon am nächsten. Das American Songbook schätze ich genauso hoch wie Alex es tut. Das ist auch der sanfte Jazz, mit dem ich früh in Berührung gekommen bin. Mein Vater hat mir meine erste Jazzplatte geschenkt: Duke Elllingtons Take The A Train. Da war ich zwölf Jahre alt. Mein Schwiegervater, der in mein Leben kam, als ich gerade zweiundzwanzig war, war ein großer Jazzliebhaber. Auf seinem Schallplattenspieler lag – neben den Songs von Sinatra – nichts anderes.
«Ich habe tatsächlich einen enormen Rechercheaufwand betrieben …»
Wer Heinz Korn (1923–1993), den Komponisten und Liedtexter berühmter Schlager («Mit 17 hat man noch Träume»), zum Vater hatte und den noch berühmteren Schauspieler Paul Hubschmid (1917–2002) zum Schwiegervater, der kann kein 08/15-Leben geführt haben. Vermutlich gibt es zahllose biografische Details, die sich Kennern Ihres Lebens und Ihrer Romane auf den zweiten oder dritten Blick erschließen. Zu den schönsten Miniaturen gehört für mich die dichte Beschreibung des Innenlebens vom Nordwestdeutschen Rundfunk/NDR – einer Welt, die Sie schon als Kind im Schlepptau Ihres Vaters kennengelernt haben. Einer Welt, in der man als kleines Mädchen auch schon mal auf Berühmtheiten wie Friedrich Gulda, Gitte Haenning oder Roy Black stoßen konnte. Das muss Sie sehr geprägt haben …
Das stimmt. Im Schlepptau meines Vaters – das war sein Part der Kinderbetreuung, mich mit ins Studio zu nehmen, sei es Hörfunk oder Schallplatten. Und da ihm meine Begeisterung so gefiel, war ich oft dabei. Schon bei den Aufnahmen in den Kasinos der Engländer, wie wir damals sagten. Bei Friedrich Gulda war ich schon ein größeres Mädchen. Sechzehn. Auf meinem Schulweg kam ich an einem der damals modernsten Schallplattenstudios vorbei, dem Cornet Studio, das der Komponist (und ehemalige Jazzpianist) Heinz Gietz gemeinsam mit dem Tonmeister Wolfgang Hirschmann gegründet hatte. Ich wusste von meinem Vater, dass Gulda dort gerade aufnahm, bin hinein, habe Gulda die Hand geschüttelt und ihm meine Verehrung erklärt. Ich denke, es hat ihm gefallen.
Gitte Haenning habe ich geliebt. Ich erinnere mich an eine Plattenaufnahme im Electrola-Studio, da war sie gar nicht glücklich ob des Liedes, das sie singen sollte. Ein alter «Dichterfürst» hatte es geschrieben, Kurt Feltz, einer der erfolgreichsten deutschen Schlagertexter und Musikproduzenten. Der glaubte, die Aufbruchstimmung der Sechziger Jahre mit der Zeile «Ich mach Protest» einfangen zu können. Die Sängerin war anderer Meinung, ich auch, obwohl damals gerade vierzehn Jahre alt. Gitte hat dann wenig später mit dem Orchester Francy Boland eine Jazz-LP aufgenommen. Es gibt immer wieder Spuren zum Jazz in meinem Leben, doch die tiefste hat der erste Mann meines Herzens gelegt – er spielte das Piano in einer Jazzcombo.
Eine der unkonventionellsten Frauengestalten ist Florentine, die Tochter von Ida und Tian Yan. Als internationales Top-Model vagabundiert sie für Shootings durch die halbe Welt. Kann es sein, dass diese Figur dank eigener Model-Erfahrungen den Weg in den Roman gefunden hat?
Na. Ich war auf keinem Titelbild. Auch nicht auf der Bäckerblume. Doch mit neunzehn bin ich eine Zeitlang über Laufstege gegangen, um mir ein bisschen Geld zu verdienen. Ich erinnere mich, wie ich bei einem Pferderennen in einer Kutsche herumfuhr, um elegant auszusteigen und Pelzmäntel vorzuführen. Dafür schäme ich mich noch heute. Pelz! Was würden wohl Ruth und Katja dazu sagen und inzwischen sogar Florentine? Ein No-go!
Im abschließenden Band der Roman-Trilogie ist ungeheuer viel Zeitgeschichte präsent: Jimi Hendrix, Beatles, Biafra, Dutschke, Vietnamkrieg, Black Panther Party, RAF, Libanonkrieg, Albert Speer, Willy Brandt, Schwarzer September/München 1972, Schleyer & die Landshut, Berufsverbote, IRA, Wolf Biermann, Republikflucht, Falklandkrieg, Tschernobyl, Montagsdemonstrationen, Schabowskis Zettel, Mauerfall 1989 u.v.m. Sie müssen einen extremen Rechercheaufwand betrieben haben – oder waren Ihre eigenen Erinnerungen an diese Jahre noch so lebendig?
Ich habe tatsächlich einen enormen Rechercheaufwand betrieben. Bücher gelesen, alte Ausgaben des Spiegel, auf YouTube die Nachrichten der Tagesschau angesehen, Gespräche geführt.
Klar, da waren die eigenen Erinnerungen, die mir halfen, die politische Atmosphäre jener Jahre einzufangen. Doch denen musste ich auch misstrauen – vieles, dem ich damals mit großer Sympathie begegnete und nun mit dem Wissen von heute anders betrachte. Doch wie sich das Leben angefühlt hat, das war sehr abrufbar. Was ich zum Beispiel Katja erleben lasse, als sie aus dem Kino kommt und die Extrablätter zum Terrorattentat auf die israelische Olympiamannschaft im September 1972 sieht – das ist mein eigenes Erleben.
Ein Thema, an dem man mit Blick auf die wilden Jahre von 1968 bis 1977 nicht vorbeikommt: der RAF-Terror («Und natürlich kann geschossen werden»), die innere Aufrüstung der BRD, die Toten von Stammheim usw. Für «68» waren Sie, glaube ich, etwas zu jung. Aber die Jahre danach werden Sie noch ziemlich gut erinnern. Wie blicken Sie von heute zurück auf diese bewegten, beängstigenden Jahre?
Ich kenne die Diskussionen in den Wohngemeinschaften, was man wohl täte, wenn einer der steckbrieflich Gesuchten vor der Tür stände und um eine Übernachtung bäte. Auch wenn ich immer die Jüngste war – an den WG-Debatten habe ich teilgenommen (und damals Wert darauf gelegt, in Sachen Baader/Meinhof «Gruppe» und nicht «Bande» zu sagen). Auch beim Sternmarsch auf Bonn 1968, dem Massenprotest gegen die Notstandsgesetze, war ich dabei. Irgendwie war da auch eine große Faszination, eine Lust auf Rebellion und Anarchie, bevor das martialische Töten begann. Im Rückblick sehe ich das alles natürlich viel kritischer. Dem studentischen Protest aber, der Liberalisierung der Adenauer-Gesellschaft – dem bin ich immer mit Sympathie begegnet. Damals wurden viele gesellschaftliche Verkrustungen und Blockaden aufgebrochen, das war überfällig.
Jüngere Leser*innen muss man daran erinnern, dass es eine Zeit gab, in der eine Äußerung wie die von Klaus Wowereit, des ehemaligen Regierenden Bürgermeisters von Berlin («Ich bin schwul, und das ist auch gut so»), undenkbar gewesen wäre. Genauso schwer dürfte es sein, jungen Leuten von heute den Schock zu vermitteln, der sich in den 1980er Jahren mit der Nachricht vom Hinüberschwappen der sog. «Homosexuellenseuche» aus den USA nach Europa breitmachte – eine Zeit, in der die Angst vor Aids allgegenwärtig war, auch im heterosexuellen Milieu. Weshalb war Ihnen dieser Komplex so wichtig: der schmähliche § 175, die Aids-Panik, die Bigotterie bürgerlicher Doppelmoral?
Weil diese Problematik mir immer gegenwärtig war und enge Freunde betraf. Ich habe das qualvolle Coming out meines Kindheitsfreundes erlebt, der (als israelischer Staatsbürger) im Oktober 1973 am Jom-Kippur-Krieg teilnahm, obwohl er eigentlich in Köln studierte, wo er aufgewachsen war. Nur um seinem Vater zu beweisen, dass er doch ein ganzer Kerl war. Leider hat er diesen Beweis nicht überlebt.
Ich habe erfahren, wie Freunde in den achtziger Jahren keine Wohnung in Hamburg fanden, weil man die anderen Mieter «vor einem homosexuellen Paar schützen» müsste, das doch nur Aids einschleppt. Für mich ist die Homosexualität selbstverständlicher Teil unseres Lebens, und wie in den fünfziger und sechziger Jahren unter dem Paragraphen 175 in Biografien eingegriffen wurde, Lebensentwürfe und auch Leben zerstört wurden, ist eine Schmach.
Natürlich lassen wir Sie, liebe Frau Korn, nicht vom Haken, ohne Ihre Zeit als Reporterin beim Stern zumindest zu streifen – viel journalistisches Insiderwissen ist, wie man unschwer erkennen kann, in die Figurenzeichnung von Katja und Karsten geflossen. Wenn unsere Recherchen stimmen, haben Sie zwischen 1984 und 1989 im von Michael Jürgs geführten Unterhaltungsressort des Stern u.a. einen Schwung Gespräche mit berühmten Schauspielern (wie Hanna Schygulla) und Musikern gemacht: Stevie Wonder und Paul McCartney, Lucio Dalla, Gianni Morandi, Annie Lennox. Wie können wir uns Carmen Korn als Stern-Jungreporterin vorstellen? Und – wie geht man damit um, eine Pop-Ikone wie Paul McCartney zu treffen?
Ich bin im Mai 1982 zum Stern gekommen, gleich im Anschluss an mein Praktikum dort während meiner Journalistenschulzeit. Hatte dann auch sehr bald einen Redakteursvertrag, das war damals viel leichter als heute. Mein erster Ressortleiter – von dem ich viel gelernt habe – war Winfried Maaß. Die Krise um die Hitler-Tagebücher habe ich erlebt, meine ersten Chefredakteure waren das Trio Peter Koch, Rolf Gillhausen und Felix Schmidt. Dann kam während der Krise kurz Henri Nannen zurück. Eine wichtige Begegnung, ohne Zweifel. Wie auch die mit dem leidenschaftlichen Journalisten Michael Jürgs.
Wie geht man um mit all diesen Stars? Ganz leicht, wenn auch gelegentlich aufgeregt. Die Namen, die hier genannt sind, das waren sympathische Begegnungen. Hanna Schygulla hat sich zwei Tage Zeit genommen für die Gespräche, das hat mir viel bedeutet. Eine kluge Frau. Genau wie Annie Lennox. Bei diesem Interview war ich sichtbar schwanger mit dem ersten Kind, und Annie Lennox und ich haben mehr über die Entscheidung für Kinder und über Schwangerschaften gesprochen als über die neue Musikproduktion. Lucio Dalla hat uns sein Haus in Bologna geöffnet. Als wir uns dann bei einem Konzert in Zürich wiedersahen, erkannte er mich und den Fotografen Harald Schmitt vor der Bühne, zog seinen berühmten Hut und winkte uns zu. Ein schöner Moment. Und Paul McCartney ist ein sehr sympathischer Routinier bei Interviews. Da war auch noch seine Frau Linda dabei, sie hat mir gut gefallen.
Bei einigen Figuren in Zusammenhang mit DDR und Wende ist man sich sicher, dass es reale Vorbilder gibt. Vielleicht beim ostdeutschen Schauspieler Jon, in den sich Katja unsterblich verliebt, oder beim Stern-Journalisten Till Arent …
Ich erinnere mich gut an den Tag, als ich 1975 in die Ostberliner Clara-Zetkin-Straße kam, ein Tag mit einem Willink'schen Himmel, genau wie ihn Katja erlebt. Da saß auch einer auf dem Boden des Büros der Süddeutschen Zeitung und las westdeutsche Zeitschriften. Kein Jon. Die große Parallele ist die zu meiner Figur Till Arent. Denn damals war Peter Pragal gerade mit seiner Familie nach Ostberlin gezogen. Pragal hatte gemeinsam mit meinem Mann Peter Hubschmid die Deutsche Journalistenschule in München besucht, die Pragals sind noch immer gute Freunde von uns. Viele Informationen habe ich auch aus Pragals Buch «Der geduldete Klassenfeind – Als West-Korrespondent in der DDR».
«Und wenn du noch mal in Schönschrift leben dürftest?»
«Ich hätte in keiner anderen Stadt lieber gelebt», das sagt Henny über Hamburg, da ist sie kurz vor ihrem 100. Geburtstag. «Hamburg, meine Perle …», das scheint auch Ihre große Liebe zu sein. Was hat – außer Reeperbahn, Michel, Hafen und dem bis vor kurzem unabsteigbaren HSV – diese Stadt, was München, Köln oder Berlin nicht haben?
Ich liebe das Klima in Hamburg, und damit meine ich nicht die Luft und den leichten Wind, der oft weht. Diese Stadt hat einen weiten Geist, und ich glaube in ihr eine Toleranz zu finden, wie sie in Hafenstädten wohl häufiger vorkommt. Und dann ist sie nach dem Krieg wieder wunderschön geworden, vor allem, wenn man das Glück hat, nahe der Außenalster zu leben.
Die wichtigsten Ereignisse in meinem Leben habe ich hier in dieser Stadt erlebt, die Geburt und das Aufwachsen meiner Kinder, das Leben im nachbarschaftlichen Freundeskreis auf der Uhlenhorst, eine seit Jahrzehnten geführte meist glückliche Ehe. Und last but not least: Das Schreiben meiner Bücher. Durch die Trilogie gehöre ich nun wirklich zu Hamburg.
Am Anfang Ihrer schriftstellerischen Arbeit galten Sie als eine aufstrebende Krimiautorin. Sind Sie nach der Hamburger Trilogie komplett weg vom Krimigenre? Oder schlummert eine verbrecherische Story in Ihnen, die, unbedingt erzählt werden möchte, analog oder digital?
Meine beiden ersten Romane waren keine Kriminalgeschichten, die Krimiautorin kam erst Jahre später und eher zufällig. Der Hamburger Verlag Rasch und Röhring hat diese ersten Bücher, die eher Kammerspiele dramatischer Paarbeziehungen waren, verlegt. Thea und Nat war das erste, dann kam Das Singende Kind. Die Erfahrungen, die ich mit dem Verleger Hans Helmut Röhring und dessen Vertrauen zu mir gemacht habe, waren von genau der Güte, die ich auch meinen Klaus mit seinem literarischen Erstling erleben lasse. Und zur anderen Frage: Nein, in mir schlummert keine «verbrecherische Story» mehr. Das war eine bewusste Entscheidung, keine Kriminalromane mehr zu schreiben. Das wirkliche Leben ist wahrlich genügend gefährlich.
In einem ziemlich coolen Interview wurde Ihnen einmal die Frage gestellt, welche Bedeutung Essen und Trinken für Sie haben, privat und in Ihren Romanen. Diese schöne Antwort haben Sie damals gegeben: «Eine große Bedeutung. Meine Freundin, die Schriftstellerin Ingeborg Hecht, sagte zu mir: Bei dir wird immer so feudal gesoffen. Doch es gibt bei mir nicht nur Bombay Sapphire, Tanqueray Gin oder Malt Whiskys. Meine Helden kaufen durchaus auch bei den Discountern ein. Ich musste die Vorlieben einiger Barmbeker Helden in einem der Schwarzen Hefte abändern und sie Wodka statt Gin trinken lassen, weil Aldi keinen Gin führt. Ein Fehler, finde ich. In den Geschichten um meine Heldin Vera Lichte wird viel und gut gekocht.» Kann es sein, dass sich daran bis heute wenig geändert hat?
(Die Autorin lächelt breit.) Daran hat sich wenig geändert. Obwohl Gin und Malt Whisky nicht zu unseren täglichen Getränken gehören. Doch ein Wein zum Essen soll sein. Und wenn ich in meinen Büchern in die Küche gehe und kochen lasse, frage ich meinen Mann um Rat.
Wenn wir schon bei Mittel- und Hochprozentigem sind: Bekommen Sie eigentlich bis ans Lebensende den Helbing-Kümmel von der Firma kostenlos gestellt, als Dankeschön? Immerhin hat eine Flasche Helbing entscheidenden Anteil am Verlauf von Hennys Liebes- und sonstigem Leben …
Darüber habe ich auch schon nachgedacht. Wer könnte das der Firma Helbing mal stecken?
«Und wenn du noch mal in Schönschrift leben dürftest?» Diese Frage stellt Henny ihrer Freundin Käthe, da sind beide schon steinalt, wie man sagt. «Welche Korrekturen würdest du vornehmen?» Diese Frage würde ich am Ende unseres Gesprächs gern an Sie weitergeben.
Und ich würde wie Käthe antworten: Viele Korrekturen. Die große Änderung in der Handschrift wäre, das Leben gelassener zu nehmen. Darauf zu vertrauen, dass das Schicksal es gut mit mir meinen könnte, das hätte es leichter gemacht. Nicht nur mir, auch den Menschen, die mit mir lebten und leben. Doch es hatte den einen und anderen Einschnitt gegeben, der mich zweifeln ließ. Ich hätte auch sehr gerne die Ehe meiner Eltern gerettet, das ist mir nicht gelungen.
Gelegentlich habe ich darüber nachgedacht, ob ich nicht zu früh alles akademische Tun von mir gewiesen habe. Doch da bin ich heute der Meinung, dass all die Abbiegungen, die ich genommen habe und die wie Sackgassen und Umleitungen aussahen, mich genau an das Ziel geführt haben – nämlich diese Bücher zu schreiben.