Im Gespräch

Berlin – wie es wurde, was es ist

800 Jahre Berlin auf 900 Seiten: Jens Bisky im Interview über seine «Biographie einer großen Stadt»

Banner Viel gesehen hat der Himmel über Berlin

Parvenü der Großstädte, Labor der Moderne, Symbol des zerrissenen 20. Jahrhunderts: In Berlin konzentriert sich nicht nur deutsche, sondern auch europäische Geschichte. Beides hat Jens Bisky im Blick, wenn er die Entwicklung der Stadt seit ihrem Aufstieg zur preußischen Residenz schildert. Berlin war äußerst wandlungsfähig und offen: für die verfolgten französischen Hugenotten und die Denker der Aufklärung unter Hohenzollernherrschaft; später als Metropole der Proletarier und Großindustriellen, der Künstler und Journalisten und als «Place to be» der Goldenen Zwanziger. All das wird in dieser Gesamtdarstellung der Geschichte Berlins, wie es sie seit Jahrzehnten nicht gegeben hat, ebenso anschaulich erfahrbar wie die Zerstörung im Zweiten Weltkrieg und die spannungsgeladene Atmosphäre nach 1945, als hier im Kalten Krieg die großen Machtblöcke aufeinanderprallten.

Harry Nutt, Berliner Zeitung: «Eine faszinierende Geschichte Berlins ..., eine lustvolle Entdeckungsreise.»
Vera Linß, MDR: «Spannend und mit großer Sachkenntnis erweckt Jens Bisky die Stadt zum Leben, schreibt analytisch und lebendig zugleich, berichtet nicht nur über die Berliner, sondern lässt sie – wo möglich – selbst zu Wort kommen.»

DAS INTERVIEW

900 Textseiten, ein Personenregister mit rund 1500 Namen, über 500 Quellen (Bücher, Aufsätze, Chroniken, Briefe, Kolumnen etc.) – und alles, wirklich fast alles, was einen an der Historie der «großen Stadt Berlin» interessieren könnte: von den ersten Zeugnissen der Stadtgründung über die Residenzstadt, die Hohenzollernstadt, die Weltkriegsstadt, die Babylon-Berlin-Stadt, die Nazistadt, die geteilte Stadt, die Weltstadt von heute. Wie haben Sie diese Titanenaufgabe bewältigt – neben Ihrer Arbeit als Feuilletonredakteur der Süddeutschen Zeitung?
Mit der Hilfe meiner Familie und der Unterstützung des Verlages. Am schwierigsten war es, eine Form zu finden. Ich wollte keine Enzyklopädie schreiben, sondern von den Berlinerinnen und Berlinern erzählen, sie auch zu Wort kommen lassen und zugleich wichtige, interessante Zahlen und Informationen bieten.

 

Sieht man sich die Liste Ihrer Publikationen der letzten zwei Jahrzehnte an, könnte man auf die Idee kommen, dass Sie schon seit langem auf dieses Buch hinarbeiten ...
Es hat nicht geschadet, dass ich vorher über Schinkel, Kleist, Friedrich den Großen und Ost-Berlin geschrieben habe, dass ich für das Feuilleton der SZ aus Berlin berichte. Aber die Perspektive ist diesmal eine ganz andere. Es geht um die Frage, was ein Ereignis für die Stadt bedeutet hat, welche Rolle die Künstler, Könige, Kaufleute gespielt haben. Und was mit «Berlin» gemeint ist. Geht es um die Hauptstadt? Um die kommunale Infrastruktur? Um die Häuser? Die Stadtgesellschaft? Deren Geschichten und Legenden? Deren Träume und Selbstbilder? Das alles sollte vorkommen, weshalb ich bei allen Themen neu nachdenken und recherchieren musste, auch dort, wo ich mich halbwegs auszukennen glaubte.

 

Ein Satz Theodor Fontanes steht am Anfang Ihrer großen Berlin-Biographie: «Vor Gott sind eigentlich alle Menschen Berliner.» Liest sich schön süffig, dann fragt man sich: Ist damit eigentlich etwas Positives über den Berliner bzw. das Berlinische ausgesagt – oder eher nicht?
Mir fällt bei diesem Satz immer eine Anekdote über Friedrich den Großen ein, der sich eines Tages sorgfältig und lange im Spiegel betrachtete und dann sagte: Der Mensch ist das Ebenbild Gottes? Nicht sehr schmeichelhaft für Gott. – Fontanes hübscher Satz ist ein Beispiel für das gebrochene Selbstbewusstsein, das für Berlin typisch ist: eine ironische Bestätigung des eigenen Überlegenheitsgefühls. Wir wissen wenigstens, dass wir nichts taugen, heißt es an anderer Stelle bei Fontane.

 

«Kurt Tucholsky glaubte, dass Berlin die Nachteile einer amerikanischen Großstadt und die Nachteile einer deutschen Provinzstadt vereine. Daran ist bis heute etwas Wahres», schreiben Sie. Was ist damit gemeint?
Berlin hat viele Gesichter, ist lange schon Sehnsuchtsort und Schreckbild zugleich. Es kann zu voll, zu groß, zu chaotisch und zugleich zu eng, zu kiezhaft, zu borniert erscheinen, aber es zog auch immer quicke, ehrgeizige, kluge Leute an, die etwas aus ihrem Leben machen, Neues erproben wollten. Es ist seit über dreihundert Jahren eine Stadt der Widersprüche, des Nebeneinanders von Aufbruchsgeist und Verstocktheit, von Obrigkeitsvergötzung und Rebellentum, von Experiment und Routine. In der Gegenwart sehen wir eine quicklebendige Stadtgesellschaft unter Wachstumsstress neben einer überforderten Verwaltung.

 

Was die neue Berliner Mitte rund um den Potsdamer Platz betrifft: Teilen Sie die Kritik des niederländischen Architekten Rem Koolhaas, der nach dem Fall der Mauer die Jury des Ideenwettbewerbs für die Neugestaltung des urbanen Quartiers verließ und gegen das «kleinbürgerliche, altmodische, reaktionäre, unrealistische, banale, provinzielle und vor allem dilettantische Bild der Stadt» wütete?
Rem Koolhaas benutzt für meinen Geschmack viel zu fette, viel zu vage Adjektive. Allerdings ist es Berlin schwergefallen, nach 1989 ein neues Selbstbild, neue Vorstellungen von Urbanität zu entwickeln. Das Hauptproblem des neuen Potsdamer Platzes ist die Verinselung, er stiftet keine Verbindung zwischen Leipziger Platz und Kulturforum. Ist das «kleinbürgerlich» oder «banal»? Egal, als städtischer Raum funktioniert vieles am Potsdamer Platz schlecht. So wie auch rund um den Hauptbahnhof.

 

Im Zusammenhang mit Harry Graf Kessler, einem Augenzeugen der Revolution von 1918, schreiben Sie, große Städte besäßen «ihre eigene Gelassenheit im Umgang mit historischen Ereignissen». Ist das vielleicht die Berlin-Lektion, die man lernen sollte: mehr Distanz, mehr Gelassenheit, mehr Skepsis gegenüber Verklärung und Überhöhung?
Ich will niemanden belehren. Die Geschichten, die ich erzähle, zeigen aber, wie fragil, verletzlich große Städte sind. Wer sie gestalten will, sollte sich erst einmal bewusst machen, dass man sie immer viel zu wenig kennt, dass sie unkontrollierbar sind und für ihre Alltagsprobleme viele verschiedene Lösungen erfordern. Man sollte sie nicht nach einer Regel durchplanen, sollte nicht alles über einen Kamm scheren. Noch zu Kesslers Lebzeiten begann die Selbstzerstörung Berlins, gefolgt von der Zerstörung im Krieg und der Teilung. Nach 1989 begann die Stadt von vorn und bildete eine neue Kultur der Gelassenheit aus. Damit diese nicht in Gleichgültigkeit umschlägt, würde ich mir mehr Streit über das Allgemeine wünschen, das Gemeinwohl in Berlin.

 

Sie waren Anfang 20, als Bauskandale West-Berlin erschütterten und die Hausbesetzerszene militant mit der Staatsmacht aneinandergeriet. War es einfacher für Sie, über diese Jahre, die Sie selbst erlebt haben, zu schreiben, als über weit zurückliegende Entwicklungen hin zur Residenzstadt Berlin im frühen 18. Jahrhundert?
Da ich in Ost-Berlin aufgewachsen bin, musste ich mir die Bauskandale und die Hausbesetzer-Geschichten ebenso anlesen wie den Siebenjährigen Krieg. Einerseits ist es leichter, über Ereignisse aus der eigenen Lebenszeit zu schreiben, weil man die Sprache der Zeitgenossen sofort versteht. Andererseits täuscht die eigene Erinnerung oft, und vieles hat man nur am Rande beobachtet. Am schwersten ist es, über die Gegenwart zu schreiben. Man weiß nicht, wie es weitergeht, und irrt sich daher notwendig.

 

Wie gern Sie in Berlin leben, darf vermuten, wer die letzten Seiten Ihres Buches liest (Überschrift: «Baden in der Spree»). Hat sich Ihr Blick auf Berlin verändert, mit all dem Wissen, was Sie jetzt über Ihre Stadt haben?
Ja, vor allem meine Neugier ist gewachsen. Da ich jetzt nicht mehr jeden Abend am Schreibtisch sitze, kann ich endlich wieder hinaus in die Stadt und schauen, was sich da tut.

Berlin

Jens Bisky legt eine Gesamtdarstellung der Geschichte Berlins vor, wie es sie seit Jahrzehnten nicht gegeben hat, vom Dreißigjährigen Krieg bis in die Gegenwart. Eine faszinierende Erzählung über Aufstieg, Fall und Neubeginn – und zugleich ein packendes Panorama deutscher wie europäischer Geschichte im Spiegel einer einzigartigen Metropole.

Parvenü der Großstädte, Labor der Moderne, Symbol des zerrissenen 20. Jahrhunderts: In Berlin konzentriert sich nicht nur deutsche, sondern auch europäische Geschichte. Beides hat Jens Bisky im Blick, wenn er die Entwicklung der Stadt seit ihrem Aufstieg zur preußischen Residenz schildert. Berlin war äußerst wandlungsfähig und offen: für die verfolgten französischen Hugenotten und die Denker der Aufklärung unter Hohenzollernherrschaft; später als Metropole der Proletarier und Großindustriellen, der Künstler und Journalisten und als «Place to be» der Goldenen Zwanziger. All das wird bei Bisky anschaulich erfahrbar, genauso aber auch die Zerstörung im Zweiten Weltkrieg und die spannungsgeladene Atmosphäre nach 1945, als sich hier die großen Machtblöcke gegenüberstehen.

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