1922 – der Große Krieg hat tiefe Wunden hinterlassen. Die junge Republik ist zwar von Aufbruchsstimmung, aber auch von bitterer Armut geprägt. In ihrem Berliner Viertel ist die junge Hebamme Hulda Gold äußerst beliebt. Sie ist gewitzt, unerschrocken, voller Empathie für die Frauen, die ihrer Hilfe bedürfen. Aber immer wieder bringt sie sich selbst in Schwierigkeiten. Zumal sie bei ihrer Arbeit nicht nur neuem Leben begegnet, sondern auch dem Tod. Im Bülowbogen, einem der vielen Elendsviertel der Stadt, kümmert sich Hulda um eine Schwangere; die junge Frau ist erschüttert, weil man ihre Nachbarin Rita tot im Landwehrkanal gefunden hat. Ein tragischer Unfall, heißt es. Aber wieso interessiert sich der undurchsichtige Kriminalkommissar Karl North für den Fall? Hulda stellt Nachforschungen an und gerät dabei immer tiefer in die Abgründe einer Stadt, in der Schatten und Licht dicht beieinanderliegen.
Die Hebamme von Berlin
Spannend und mitreißend: Der erste Teil von Anne Sterns farbenprächtiger Saga um die junge Hebamme Hulda Gold
Das Interview
Ob Film, Literatur, Musik oder Journalismus – das Berlin der 1920er Jahre scheint ein ewiges Faszinosum zu sein: die junge Demokratie der Weimarer Republik, die in der Katastrophe des Dritten Reichs unterging. Sie wurden in Berlin geboren, waren im Schöneberger und jetzt im Steglitzer Kiez zu Hause, haben über Berlin auch schon vor «Fräulein Gold» geschrieben. Kann es sein, dass Ihnen der romantisch-verklärende Blick auf Ihre Heimatstadt fremd ist?
Fremd ist er mir eigentlich nicht, natürlich bin ich auch fasziniert von dem bunten Neben- und Miteinander von Kulturen, Künsten, Vergnügungsorten der Weimarer Zeit. Aber die Reduzierung Berlins auf dieses wilde Babel voller Exzentriker, die wir gerade sehr stark in der Popkultur finden, die ist mir zu eng gedacht. Ich will eher zeigen, wie auch der Alltag der «kleinen Leute» war, wie sie vielleicht lebten, dachten und träumten. Berlin ist ja auch heute noch, gerade durch das Fehlen eines Stadtzentrums und die Zersplitterung in vielfältige Kieze, sehr heterogen, und mich interessiert als Berlinerin das Kleine, das Lokale im Großen der Stadt.
Mit der Hebamme Hulda Gold haben Sie eine wunderbare Frauenfigur in die Literatur gebracht. War Ihnen von Anfang an klar, dass Ihre Protagonistin eine Hebamme sein würde – und nicht Straßenbahnschaffnerin, Concierge oder Sekretärin?
Nein, das war mir gar nicht klar. Hulda Golds Charakter, ihr Aussehen, ihre störrische Art, mit den Widrigkeiten des Lebens umzugehen, hatte ich sehr schnell vor Augen. Ihren Beruf habe ich dann aber erst später für sie gewählt. Mein Gefühl war, dass sie die Möglichkeit haben sollte, als Insiderin in den Haushalten Berlins ein- und ausgehen zu können, sich aber dennoch immer ein Stück Außenperspektive zu bewahren. Und sie sollte einen Zugang zu den Emotionen, Ängsten und Hoffnungen der Menschen haben, denn die interessieren mich als Schriftstellerin besonders. Der Beruf der Hebamme schien mir dafür perfekt, zumal er den Blick auf meine zweite Leidenschaft, Berlins Medizingeschichte, eröffnet.
Hulda, die junge Frau mit der roten Kappe auf dem schwarzen Bubikopf, passt gut in die Weimarer Zeit. Sie lebt allein, ist selbstbewusst, mutig, empathisch, mit einem erfrischenden Schuss Leichtsinn unterwegs. Hulda Gold, eine instinktive Feministin?
Das klingt gut! Sie selbst würde das natürlich so niemals formulieren, aber sie hat tatsächlich so eine Art angeborenes Gespür für den Kampf um Gleichberechtigung und Teilhabe. Dabei bezeichnet sie selbst sich ja als «unpolitisch», sie meidet Gruppen, hat wenig enge Kontakte, schon gar nicht zu anderen Frauen … In einer feministischen Frauenvereinigung, die es ja in der Weimarer Zeit durchaus gab, hätte sie sich nicht wohlgefühlt, dafür ist sie zu wenig Herdentier. Aber sie fragt sich schon, und das ist ein roter Faden, der durch alle Bände geht, was sie als Frau eigentlich daran hindern sollte, ähnlich viel Verantwortung und Deutungshoheit über die Dinge zu gewinnen wie ein Mann.
Die «Irrenanstalt der Stadt Berlin zu Dalldorf», wo einige der finstersten Szenen des Romans spielen, ist kein fiktiver Ort. Sie zählte zu den Einrichtungen, in denen mit barbarischen «Therapien» und offener Gewalt psychisch Kranke und Kriegstraumatisierte drangsaliert wurden. Wie sind Sie auf die im Volksmund «Bonnies Ranch» genannte Nervenklinik in Dalldorf/Wittenau gestoßen?
Jede Berlinerin kennt natürlich diesen Namen, aber so richtig bin ich erst während meiner Recherche für den ersten Band von «Fräulein Gold» darauf gestoßen. In meinen Büchern geht es ja auch immer ein Stück weit um die Abgründe der menschlichen Seele, um die Erfahrungen, die uns zu dem Menschen formen, der wir sind. Und auch die Medizin des 20. Jahrhunderts interessierte sich immer mehr für diese Fragen, die Psychiatrie boomte. Aber das Menschenbild war nach dem Ersten Weltkrieg natürlich ein anderes als heute, es wurde viel mehr noch danach gefragt, was ein Individuum wert ist in Relation zur Gesellschaft, und die Antwort darauf endete leider für viele psychisch Kranke in unendlichem Leiden und Tod. Das kulminierte dann auf furchtbare Weise im Nationalsozialismus, als die Psychiatrien zu Zentren der Euthanasie wurden. Aber wie so oft bilden die Jahre der Weimarer Republik hierfür ein schreckliches Versuchslaboratorium, in dem auch schon solches Gedankengut ausgebildet und verfestigt wird.
Sind Sie eigentlich schon in Ihrem Geschichts- und Germanistikstudium mit all den politischen Themen und Figuren in Berührung gekommen, die in «Fräulein Gold» aufscheinen: Kapp-Putsch, Freikorps-Terror, Formierung der NSDAP, Hyperinflation, die Morde an Matthias Erzberger und Walther Rathenau etc.?
Ja, ich hatte ein sehr interessantes Seminar zur Weimarer Republik im Hauptstudium, und eins meiner mündlichen Prüfungsthemen war dann auch die politische Radikalisierung bis 1933. Dabei fand ich damals schon und heute noch mehr die Zusammenhänge dieser Dinge interessant, also nicht die reine Ereignisgeschichte, sondern die Verbindungslinien. Wie führten diese einzelnen Schritte, die Entscheidungen von politischen Akteuren, zu dem Untergang der Demokratie, den ich heute noch als schreckliche Verschwendung empfinde? Es war ja schon alles da, der Glaube an Toleranz und an die Herrschaft der Vielen, den Schutz von Schwächeren. Aber die Demokratie war noch nicht stark genug, sich gegen die rechten Kräfte zu schützen – das sieht man auch in den weiteren Bänden von «Fräulein Gold».
Das tragische Gegenstück zu Hulda ist Rita Schönbrunn. Ihr hartes, von Schicksalsschlägen beschwertes Leben endet auf fürchterliche Weise im Landwehrkanal. Das kann man nicht lesen, ohne an das Ende von Rosa Luxemburg 1919 zu denken …
Beide Frauen, Rosa Luxemburg und meine fiktive Figur Rita Schönbrunn, werden tot im Landwehrkanal gefunden, doch damit endet ihre Gemeinsamkeit. Anders als Rosa Luxemburg, die ja wegen ihrer Aktivitäten im Spartakusbund von Freikorps-Soldaten ermordet wurde, ist Rita vollkommen unpolitisch. Was aber beide trifft, ist die menschenverachtende Perspektive auf das Leben, auf den Wert des Individuums, die seit dem Ersten Weltkrieg noch einmal mehr das Denken der Deutschen prägte. Eine ganze Generation von Menschen, besonders von Männern, hatte in diesem Krieg, in dem maschinelles Töten zur Normalität geworden war, gelernt, dass ein Menschenleben nichts zählte. Die Hemmschwelle zum Töten war extrem gesunken. Daher die enorme Menge politischer Morde in den ersten Jahren der Weimarer Republik und auch der Anstieg der Mordverbrechen, gegen den dann in meinem Roman der Kommissar Karl North unter der Leitung des legendären Ernst Gennat zu kämpfen hat.
«Niemand konnte wissen, wie es mit dem Kommissar und der Hebamme weiterging», heißt es auf der letzten Seite des Romans. Man verrät wohl nicht zu viel, wenn man davon ausgeht, dass es ein Wiedersehen mit Fräulein Gold, Kriminalkommissar Karl North und hoffentlich auch mit dem charmanten Kioskbetreiber Bert geben wird?
Ja, die Leser*innen können alle Figuren im zweiten Band meiner Fräulein-Gold-Reihe wiedertreffen, und zwar in «Scheunenkinder»: Hier macht sich Hulda Gold auf die Suche nach einem verschwundenen Kind im Berliner Scheunenviertel. Diese wenigen Straßen rund um den Rosenthaler Platz bildeten in den 1920er Jahren einen eigenen Kosmos, hier lebten vor allem zugewanderte Juden aus Galizien Seite an Seite mit den ansässigen Berlinern auf einem bunten und harten Pflaster. Im dritten Band, «Der Himmel über der Stadt», muss sich Hulda Gold dann als Hebamme in der Universitäts-Frauenklinik in Berlin-Mitte bewähren, hier bekommt man einen Einblick in die medizinische Entwicklung der Geburtshilfe. Und auch privat geht es zwischen Hulda und Karl turbulent und herzzerreißend weiter.
Eine letzte Frage: Hat sich für Ihre Arbeit an der «Fräulein Gold»-Reihe in den vermaledeiten Corona-Monaten viel verändert –Vorort-Recherchen, Bibliotheksbesuche, persönliche Treffen – all das war ja zuletzt allenfalls rudimentär möglich?
Seit März betreuen wir hier zu Hause unsere beiden kleinen Kinder, insofern hat sich die Zeit, die mir für Recherche und Schreiben bleibt, etwas verkürzt. Aber der Buchhandel blieb ja zum Glück durchgehend offen in Berlin, und ich konnte jederzeit Nachschub an Fachbüchern und Zeitschriften ordern, die ich brauchte. Und außerdem muss man ja sagen, dass ein Großteil der Arbeit einer Schriftstellerin in ihrem Kopf vor sich geht, und der ist auch in diesen merkwürdigen Zeiten unabhängig geblieben. Das ist auch das Wunderbare an Literatur, dass sie uns aus dem Jetzt herauslöst und uns an andere Orte und Zeiten bringt, in den Büchern können wir überall hinreisen, selbst in der Quarantäne. Bücher sind Flucht, Rettung und Neuanfang. Das gilt für das Lesen wie für das Schreiben.
Fräulein Gold: Schatten und Licht
Der Auftakt zu der farbenprächtigen Bestsellerreihe um die Hebamme Hulda Gold - voller Spannung und Atmosphäre im Berlin der 1920er Jahre.
1922: Hulda Gold ist gewitzt und unerschrocken und im Viertel äußerst beliebt. Durch ihre Hausbesuche begegnet die Hebamme den unterschiedlichsten Menschen, wobei ihr das Schicksal der Frauen besonders am Herzen liegt. Der Große Krieg hat tiefe Wunden hinterlassen, und die junge Republik ist zwar von Aufbruchsstimmung, aber auch von bitterer Armut geprägt. Hulda neigt durch ihre engagierte Art dazu, sich selbst in Schwierigkeiten zu bringen. Zumal sie bei ihrer Arbeit nicht nur neuem Leben begegnet, sondern auch dem Tod. Im berüchtigten Bülowbogen, einem der vielen Elendsviertel der Stadt, kümmert sich Hulda um eine Schwangere. Die junge Frau ist erschüttert, weil man ihre Nachbarin tot im Landwehrkanal gefunden hat. Ein tragischer Unfall. Aber wieso interessiert sich der undurchsichtige Kriminalkommissar Karl North für den Fall? Hulda stellt Nachforschungen an und gerät dabei immer tiefer in die Abgründe einer Stadt, in der Schatten und Licht dicht beieinanderliegen.
Hulda Gold ist eine Figur, die niemand so schnell vergisst. Man feiert mit ihr, leidet und liebt mit ihr. Ihr Schicksal lässt niemanden kalt.