Die Groen-Schwestern wachsen im Ost-Berlin der sechziger Jahre heran. Unterschiedlicher könnten die beiden Mädchen nicht sein: Charlotte, die ältere, brennt ebenso für den Sozialismus wie ihr Vater Johannes, der am Ministerium für Staatssicherheit Karriere macht. Die künstlerisch begabte Marlene hingegen eckt überall an und verliebt sich Hals über Kopf in Wieland, einen Pfarrerssohn, der die DDR kritisch hinterfragt. Mit jedem Tag wächst die Sehnsucht nach einem Leben in Freiheit. Als das junge Paar beschließt, in den Westen zu fliehen, trifft Marlenes Vater eine Entscheidung – mit fatalen Folgen, die noch Jahrzehnte später spürbar sind …
DAS INTERVIEW
Anfange möchten wir mit einem aktuellen Facebook-Post auf Ihrer Seite: «‹Kranichland›» und ich, wir sind zurück aus Leipzig. Ich bin noch immer im Rausch, so schön war es und schlafe fast den ganzen Tag vor gerührter Mattigkeit.» Was war so schön für Sie bei der Leipziger Buchmesse – wo man doch weiß, dass Buchmessen für die Akteure vor allem eines ist: Stress?
Stress war es, ohne Zweifel, aber schöner Stress, dieser Eu-Stress, der Glückshormone freischaltet. Glücklich gemacht hat mich die Hingabe, mit der «Kranichland» aufgenommen wurde, die vielen positiven Rückmeldungen, die interessanten Fragen zum Entstehungsprozess des Romans und zu den Figuren. Und dann ist Leipzig eingeschneit, mitten im März, und dadurch hatte das Ganze zusätzlich etwas Märchenhaftes.
Eine Rezensentin lobte Sie für die Entscheidung, unten auf jeder Doppelseite jeweils die Zeitangabe mitzuliefern – so verliert man nie den Überblick, wo auf der Zeitschiene man sich gerade befindet. War Ihnen die Romanstruktur, das Springen zwischen «Damals» und «Heute», von Anfang an klar – oder hat sich das im Laufe des Schreibprozesses als die perfekte Form ergeben?
Die Idee war von Beginn an da.
Durch die zwei Ebenen hatte ich viel Spielraum für den dramaturgischen Aufbau der Handlung. So passiert etwas in der Vergangenheit, und man kann unmittelbar danach zeigen, welche Auswirkungen das bis in die Gegenwart hat.
Ich denke, dass diese wechselseitigen Abhängigkeiten uns allen bekannt sind. Jeder kennt dieses Phänomen, dass in Familien Entscheidungen getroffen oder Fehler begangen werden, die über die nachfolgenden Generationen hinweg prägen. Dabei geht es darum, zu verstehen, warum was wie passiert ist. Fehler gehören dazu, die kann man oft nicht rückgängig machen. Dennoch ist das keine Einbahnstraße. Vielleicht, so hoffe ich, kann man (Fehl)Entscheidungen nachvollziehen und, im Idealfall, verzeihen. Damals und Heute, diese Struktur in «Kranichland», ist letztendlich die Struktur, aus der wir alle gemacht sind.
Sie wurden 1979 in Dresden geboren, haben die letzten zehn Jahre DDR als Kind erlebt. Manches beschreiben Sie so unglaublich detailgenau, als hätten sie nicht zehn, sondern dreißig Jahre DDR erlebt …
Das überrascht mich, dass dieser Umstand immer wieder betont wird. Es gibt Bücher übers Mittelalter, über Serienmörder, über bewohnte, ferne Planeten, über Städte unter Wasser... Es geht nicht darum, etwas miterlebt zu haben, sondern darum, es sich vorzustellen zu können.
Ich habe natürlich viel recherchiert und mit Zeitzeugen gesprochen, die übrigens alle ihre ganz individuellen Erinnerungen und Deutungen haben. Im Recherchieren kann ich mich verlieren. Am Ende hatte ich so viel gesammelt, dass ich traurig war, nicht alles in den Roman packen zu können. Aber «Kranichland» ist ja auch kein Geschichtsbuch, sondern ein Familienroman vor historischer Folie.
Apropos Kindheit: Haben Sie noch ein plastisches Bild vor Augen, wie Sie als zehnjähriges Mädchen diese unglaubliche Nachricht aufgenommen haben, als es hieß: Die Mauer ist auf …?
Oh, gute Frage. Ich weiß es nicht mehr. Damals war ich sehr jung und «Mauer auf» sehr abstrakt. Der 10. November 1989 war ja ein Freitag und das, an was ich mich noch erinnere, ist, dass deutlich weniger Kinder in meiner Klasse saßen.
«Kranichland», Fluchtpunkt und Sehnsuchtsort: Das Bild der wegziehenden und immer wieder zurückkehrenden Kraniche steht für den Wunsch, einengenden gesellschaftlichen Verhältnissen den Rücken zu kehren. Falls diese Frage nicht zu privat ist: Gab es in Ihrer Familie, in Ihrem nahen Umfeld Menschen, die aus der DDR weggegangen sind?
In meiner Familie gab es niemanden, der die DDR verlassen hat. Ich glaube, ich hatte mal eine Lehrerin die plötzlich «weg» war. Aber warum genau, darüber kann ich nur spekulieren. Diese ganzen Zusammenhänge, das Warum des Weggehens, das Warum des Bleibens, die habe ich erst sehr viel später begriffen.
Sie leben mit Ihrer Familie in Berlin, arbeiten als Lehrerin für Französisch und Spanien – und schreiben «ganz nebenher» noch einen Roman. Wie geht das – sind Sie derart weltklassemäßig organisiert, dass Sie das alles unter einen Hut (bzw. mehrere) kriegen? Oder bersten Sie einfach vor Energie?
Das hört sich an, als wäre ich ein wütiges Arbeitstier. Nein, der Schein trügt. Ich unterrichte in Teilzeit, meine Tochter ist schon recht selbständig und das Schreiben macht mir enorm viel Spaß. Es ist diese schöne Sache, dieses Flow-Erlebnis, bei dem man irgendwann vom Rechner aufschaut und sich fragt, ob die Uhr kaputt ist oder tatsächlich schon zwei Stunden vergangen sind. Das Schreiben ist mein «Kranichland», mein Sehnsuchtsort, mein Abtauchen, meine Freiheit, dort, wo ich mich wohlfühle.