Wenn Linus Giese die Augen schließt und versucht, an Menschen und Orte aus seiner Vergangenheit zu denken, verschwimmt alles. Die wenigen Erinnerungen, die er an seine Kindheit und an sein Heranwachsen hat, erscheinen dem 34-jährigen Autor, Aktivisten und Buchhändler wie blasse, verwackelte Polaroid-Bilder. Er sieht ein Mädchen vor sich, das seltsam und verloren war. Eines, das sich wie ein Roboter durch seinen Alltag bewegte und dessen Leben sich vor allem im eigenen Kopf abspielte. «Ich sah aus wie eine verkleidete Hülle, ohne Inhalt und innerlich leer. Ich koppelte mich von mir selbst ab – von meinem Körper und von meiner Identität», sagt Linus Giese.
Als Baby geboren
Spricht Linus Giese über sein Leben, sagt er: «Ich wurde nicht als Frau geboren, ich wurde als Baby geboren, und aufgrund bestimmter genitaler Merkmale wurde mir das falsche Geschlecht zugeschrieben. Schon mit sechs Jahren wusste ich, dass ich einen Penis haben möchte.» Erst 25 Jahre später, mit 31, macht er den Schritt in sein Leben als Mann. Sein Coming-out hatte Linus Giese 2017 in einer Frankfurter Starbucks-Filiale. Dort nannte er dem Barista den Namen, den er sich schon lange für sich selbst überlegt hatte: Linus. Anschließend postete er das Bild des Kaffeebechers mit seinem Namen auf Facebook. Die Reaktionen auf sein Coming-out reichten von Konflikten bis hin zu zerbrochenen Freundschaften. Doch nichts davon war so gravierend, wie er es zuvor befürchtet hatte.
«Als ich mich endlich outete, hatte ich das Gefühl, zum ersten Mal richtig atmen zu können», sagt Giese. Ein Jahr nach seinem Outing begann er Hormone zu nehmen. «Dadurch veränderte sich mein Leben zum ersten Mal in eine positive Richtung», sagt er. Manchmal erscheint ihm seine Transition, also die Geschlechtsangleichung, wie ein Computerspiel: «Ich komme Level für Level weiter. Ich glaube, meine Transition wird mein ganzes Leben lang dauern, und ich freue mich schon jetzt auf das nächste Level.»
Kampf um Raum und Sichtbarkeit
An dem Tag, an dem er zum ersten Mal seinen richtigen Namen laut aussprach, teilte sich sein Leben in ein Davor und ein Danach. Das Danach umfasst inzwischen drei Jahre, in denen sich vieles in seinem Leben geändert hat.
«Mit meinem Coming-out verlor ich das Privileg, zu den ‹Normalen› zu gehören. Ich war plötzlich anders und davon abhängig, ob ich von anderen immer noch akzeptiert oder gemocht wurde», sagt Giese.
Viele trans Personen besitzen laut Giese einen Überlebensinstinkt, der darin besteht, sich der Mehrheitsgesellschaft anzupassen. Auch ihm ging es lange Zeit so. Denn wer sich anpasse, erhöhe nicht nur seine Chancen, etwa eine Wohnung oder einen Arbeitsplatz zu finden, sondern auch akzeptiert zu werden.
Für Giese bedeutet ein trans Mann zu sein auch, dass er sich behaupten und kämpfen muss – um Anerkennung, Sichtbarkeit und Räume. «Ich muss um mein Geschlecht kämpfen und darum, dass aus mir nicht etwas gemacht wird, was ich nicht bin.» Immer wieder erlebt er, dass seine Erfahrungen analysiert, in Frage gestellt oder übergriffig kommentiert werden. «Ein trans Mann ist ein Mann. Ich bin kein Mann, der mal eine Frau gewesen ist oder als Frau geboren wurde. Ich bin auch kein Mann, der gerade noch eine biologische Frau ist», sagt Giese. Er empfindet es als zutiefst verletzend und respektlos, wenn Menschen durch derartige Formulierungen bestimmen wollen, wie er auf seine Vergangenheit schaut.
Machtinstrument Sprache
Wie viel Macht Sprache haben kann, wurde Giese erst nach seinem Coming-out bewusst: «Durch Sprache ist es möglich, Menschen mit einzuschließen oder sie unsichtbar zu machen.» Er selbst habe vor fünf Jahren auch noch nicht darüber nachgedacht, dass andere durch die Ansprache als Mann oder Frau verletzt sein könnten, und ihm ist klar, dass Menschen zu diesem Thema unterschiedliche Wissensstände haben. Wichtig sei jedoch zuzuhören, die Wünsche des Gegenübers zu respektieren und etwa nachzufragen, mit welchem Pronomen eine Person angesprochen werden will. Denn grundsätzlich können alle Pronomen für alle Geschlechter genutzt werden. Gieses Hoffnung ist es, nach Veröffentlichung des Buches keine Fragen mehr zum Thema trans beantworten zu müssen. «Ich möchte meine Zeit nicht mehr darauf verwenden, Menschen zu erklären, dass ich eine Existenzberechtigung habe», sagt er.
Aktivistisches Schreiben
Durch seine Präsenz auf Facebook, Twitter und Instagram will Giese vor allem Aufklärungsarbeit leisten, Denkanstöße geben und Sichtbarkeit für die Belange von trans Personen schaffen. Wie groß das Risiko ist, als trans Person im Internet sichtbar zu sein, muss Linus Giese seit seinem Outing selbst erleben. Neben massiven Hasskommentaren im Netz verfolgten ihn die Täter bis an seinen damaligen Arbeitsplatz. Sie schickten ihm Drohbriefe, überklebten das Klingelschild mit seinem alten Namen. Einmal stand einer dieser Männer sogar direkt vor seiner Wohnungstür. Traumatische Erfahrungen, die dazu führten, dass Giese sein Buch in fremden Wohnungen und an fremden Schreibtischen schrieb. Seit 2018 versucht er, rechtlich gegen die Täter vorzugehen, bisher ohne Erfolg. «Menschen wie ich werden aus dem Netz geekelt und zum Schweigen gebracht. Es braucht Solidarität, bessere Gesetze und Beratungsangebote, um etwas an der Situation zu ändern», sagt Giese. Seine aktivistische Arbeit setzt er trotz der Bedrohungen fort.
Queere Lebensrealität
Die Frage, warum sich Menschen durch seine Existenz zu derartigen Taten animiert fühlen, hat ihn lange beschäftigt. Ebenso lange hat es gedauert, bis er verstand, dass er nichts provoziert oder falsch gemacht hat. Seine Geschichte schrieb Giese auch auf, um sich selbst zu retten: «Das Schreiben hatte auf jeden Fall eine therapeutische Wirkung. Ich habe während der Arbeit am Buch viel über mich selbst gelernt, und ich habe das Bedürfnis, dieses Wissen und diese Erfahrung weiterzugeben.» Als Jugendlicher hätte er sich selbst so ein Buch gewünscht. «In den Büchern, die ich las, als ich zu einem Teenager heranwuchs, gab es keine Figuren, die mir ähnelten. Ich fand keine Vorbilder für das, was ich fühlte», sagt Giese. Ihm ist es wichtig, dass jede*r sich traut, das Leben zu führen, das sie*er führen will. Und dass trans Kinder, trans Jugendliche und trans Erwachsene irgendwann als völlig normaler Bestandteil unserer Lebensrealität gesehen werden.