Ein geschützter Ort, an dem Mädchen und Jungen gleichberechtigt miteinander lernen, im Einklang mit der Natur, orientiert an den musischen, physischen und handwerklichen Talenten der Kinder – das ist die Schule am Meer. Diese Schule hat es tatsächlich gegeben: geografisch am Rande der Weimarer Republik gelegen, auf der Nordseeinsel Juist; pädagogisch und politisch quer zu fast allem, was damals an deutschen Schulen praktiziert wurde. 1934 fiel das Landerziehungsheim der rigorosen Gleichschaltungspolitik des NS-Regimes zum Opfer. Im Zentrum von Sandra Lüpkes’ mitreißendem Roman steht eine Gruppe von Lehrkräften und ihren Schülern, die mit Mut und Zähigkeit ihrem Ideal einer freien Schule folgen. Eine Geschichte von Wagemut und Scheitern, Freundschaft und Verrat – hervorragend recherchiert und packend erzählt.
«Worte sind immer möglich.»
Dieser Roman hat eine Vorgeschichte, man sollte sie kennen. Sandra Lüpkes ist auf Juist aufgewachsen, hat lange Jahre dort gelebt. Bei Besuchen im Heimatmuseum der Insel fiel ihr auf, dass im Zusammenhang mit der Schule im Juister Westen fast immer nur von deren charismatischem Leiter, dem Theatermann Martin Luserke («Lu»), die Rede war. Nicht aber von anderen prägenden Pädagogen wie Anni Reiner (1889–1972), ihrem Mann Paul (1886–1932), Rudolf Aeschlimann («Aeschli», 1884–1961), Fritz Hafner («Mister», 1877–1964) oder dem Dirigenten und Komponisten Eduard Zuckmayer («Zuck», 1890–1972).
Dank ihrer Recherchen auf Juist, in Berlin und im Tessin ist es Sandra Lüpkes gelungen, die Geschichte dieses einzigartigen ganzheitlichen Schulkonzepts und der Menschen, die es prägten, lebendig werden zu lassen. Dokumentarisch exakt, wo es möglich war, und mit literarischer Fantasie, wo sich Lücken auftaten. So gab es etwa – nur um zwei Beispiele zu nennen – keinen Maximilian Mücke, genannt «Moskito», Sohn eines bolivianischen Zinnbarons; und auch der fanatische Nationalsozialist Gustav Wenniger im Roman war nicht der, der den Kameradschaften und ihren Lehrern das Leben schwermachte. (Mehr dazu erfährt man im Nachwort zum Roman.)
Juist, Sommer 1925
Es ist eine lange Reise von Frankfurt hoch nach Ostfriesland, die Kinder, vorfreudig und aufgeregt: «Wie groß wird unser Kinderzimmer sein? Gibt es auf Juist Tiere? Und wie oft gehen eigentlich Schiffe unter?» Mit der Inselbahn erreichen Anni Reiner und ihre drei Töchter Renate, Eva und Ruth die Insel. Endlich kann Anni ihren Mann Paul wieder in die Arme schließen. Gemeinsam mit drei anderen Lehrerehepaaren wollen sie auf Juist eine Schule gründen, die neue Wege geht: eine Lehranstalt, die durch die gleichberechtigte Entwicklung der musischen, physischen und handwerklichen Talente die ihnen anvertrauten Kinder zu freien Menschen reifen lassen will.
Auf einem heruntergekommenen Stück Brachland, weit weg vom Inselzentrum, aber nah am Strand, haben Luserke, genannt «Lu», und seine Mitstreiter ein altes Gasthaus, eine baufällige Baracke und eine löchrige Scheune erworben. Hier wird sie entstehen, die von den Einheimischen später mit einer Mischung aus Bewunderung und Argwohn beäugte Schule am Meer. Paul Reiner wird ihr Geschäftsführer sein, Anni wird Deutsch und Naturwissenschaften unterrichten. Von ihrer alten Schule in Wickersdorf sind sie im Streit geschieden; dort sind Dinge geschehen, die zwischen Lehrern und Schülern niemals hätten geschehen dürfen.
«Paul war der erste Mann, der in Anni mehr sah als die gutbetuchte Tochter eines jüdischen Geschäftsmannes, die zur Universität geschickt wurde, um einen adäquaten Heiratskandidaten zu finden. Zu Beginn hatte Anni sich in seiner Gegenwart beinahe geschämt. Ein Linker, der politische Schriften las und seine Dissertation über das trigonale Kristallsystem verfasst hatte, was konnte der schon mit einer höheren Tochter anfangen?» Aber Paul konnte. Und wie er konnte!
«Hunde und Juden haben hier keinen Zutritt!»
Mit diesem Schild wird Annis Mutter Philippine Hochschild, die sich in den schwierigen Anfangsmonaten um ihre Enkelinnen kümmern will, an der Rezeption des Inselhotels brüsk abgewiesen: «Das ist das Hausrecht der Familie Gerken.» Keine Hunde! Keine Juden! Die schroffe Zurückweisung ist nicht die einzige Enttäuschung, die die Schulpioniere auf Juist erwartet. Aber nach und nach nimmt der Traum von einer freien Schule Gestalt an. Weil alle mit anpacken, die Lehrer und Lehrerinnen, die Mädchen und Jungen – alle, für die die Schule im Loog zu einem Stück Heimat werden wird.
Als sich Eduard Zuckmayer, der Bruder des Schriftstellers Carl Zuckmayer, entschließt, als Musiklehrer auf Juist zu arbeiten, ist das für Luserke wie ein Hauptgewinn im Lotto. Als Komponist, Dirigent und Pianist war «Zuck» in Frankfurt am Main eine große Nummer gewesen; dass eine Koryphäe wie er sich entschließt, der Großstadt den Rücken zu kehren, um in der ländlichen Abgeschiedenheit von Juist mit jungen Menschen zu arbeiten, ist für das Image der reformpädagogischen Schule unbezahlbar. Die Schüler lieben Zuck. Für sich selbst aber eine Liebe fürs Leben zu finden, fällt dem im Krieg schwer verletzten Musiker nicht leicht. Ob er jemals eigene Kinder haben wird? Zuck bezweifelt das. Aber eines weiß er: «Noch nie in seinem Leben hatte sich Eduard so sehr am rechten Ort gewusst wie hier.»
«Wer, wenn nicht wir?»
Im Roman erleben wir die aufreibende Zeit – von der Schulgründung bis zu ihrer Liquidierung durch die Nazis – aus der Perspektive eines Jungen: Maximilian Mücke, Spitzname «Moskito». Der Junge ist zehn, als ihn seine Eltern, Besitzer eines Zinnbergwerks im bolivianischen Potosí, nach Deutschland schicken, hier soll er das Abitur machen und dann nach Bolivien zurückkehren. Die Jahre fliegen dahin, die Schule erlebt ihre Höhen und Tiefen. Bunte Träume, kleine Dramen. Erste Lieben, erste Abschiede. Die Schule wächst, immer mehr Schüler kommen nach Juist, sogar ein Theatersaal entsteht – wenn auch deutlich maßvoller dimensioniert, als «Lu» es sich in seinem Größenwahn ausgemalt hat; ohne die großzügige Unterstützung von Annis Familie wären solche Prestigeprojekte nie realisierbar gewesen.
In ihrer Haltung zur Reformschule sind die Insulaner gespalten. Manche sehen sie mit Misstrauen, andere registrieren anerkennend, dass die von den Schülern angelegten Nutzgärten überraschend ertragreich sind: ein kleines Wunder bei den mageren, sandigen Böden im Westen der Insel! Für Gustav Wenniger aber ist die Schule im Loog nichts anderes als eine jüdisch-kommunistische Pestbeule. Der stramme Nazi und seine SA-Schlägerfreunde sehen es als freudigen Dienst am Vaterland, die «Drecksschule» sturmreif zu schießen. Durch Gerüchte, finanzielle Erpressung, öffentlichen Druck, Denunziation.
Ein Artikel in der Rheinisch-Westfälischen zeugt von der Niedertracht der Anwürfe: «Die Schule am Meer wird als pädagogische Katastrophe bezeichnet. Unter uns herrscht Polygamie, wir seien Kommunisten, berauschten uns an Halluzinogenen, würden weder uns noch unsere Kleidung waschen und die Hunde abrichten, damit sie zielgenau in die Waden der Badegäste beißen. Ganz zu schweigen davon, dass die Überzahl an jüdischen Lehrkräften und Schülern dem deutschen Volksgeist ernsthaft zu schaden drohe.» Am schlimmsten ist, dass die reaktionäre Hetze auch in die Schule am Meer einzusickern droht. Acht Schüler verlassen 1932/33 die Einrichtung; dass sie alle aus jüdischen Familien stammen, das kann kein Zufall sein.
Die Mission der Insel-Nazis: ein «judenfreies Juist». Anni Reiner weiß, dass sie die Erste sein wird, die mit ihren Kindern von der Insel gejagt werden wird – sie, die Rassentheoretiker eine «Volljüdin» nennen; als Lehrerin wäre sie nicht mehr tragbar. Das macht ihr aber weniger Angst als die Tatsache, dass ihr geliebter Mann Paul krank ist. So krank, dass er nach Zürich ausgeflogen werden muss ...