Eigentlich bräuchte die Architektin Julia Hirschfeld nichts dringender als eine Auszeit. Leider ist sie nicht allein auf dem Weg nach Sylt, um sich das von ihrem Vater geerbte Haus am Meer anzuschauen. Mit ihr im Autozug sitzen ihre Mutter und deren Schwestern Christiane und Annegret. Die drei Schwestern sind vollkommen zerstritten, haben seit Jahren keinen Kontakt mehr – und wollen dennoch dabei sein, wenn über die Zukunft des Hauses entschieden wird, in dem sie als Kinder unbeschwerte Familienurlaube verbracht haben. Noch ahnt Julia nicht, dass sich für sie in diesen Tagen auf der nordfriesischen Insel alles verändern wird, ihr Alltag, ihre Zukunft. Weil sie endlich einen Schlüssel zur verborgenen Geschichte ihrer Familie findet. Und einen Mann kennenlernt, der alle bisherigen Gewissheiten ihres Lebens auf den Kopf stellt.
Drei Schwestern – und mehr als drei Probleme
Für Julia ist die Sache klar. Sie will einen Blick auf ihr Erbe werfen, einen Makler suchen und das im friesischen Stil erbaute Haus so rasch wie möglich zum maximalen Marktpreis verkaufen. Das Geld will sie in ihre berufliche Zukunft stecken, in das Architekturbüro, das sie gemeinsam mit ihrem Freund Jo führt. Das Familienerbstück zu behalten kommt ihr nicht in den Sinn. «Im Grunde interessiert mich die Insel kein Stück. Was soll ich mit einem Haus auf Sylt? Urlaub verbringe ich nach Möglichkeit in Ländern mit Schönwettergarantie. (...) Kennt man eine Nordseeinsel, kennt man alle. Der einzige Unterschied, den Sylt ausmacht, ist, dass hier alles zehnmal teurer ist als anderswo. Und dass einem alle Porsche-Modelle der letzten fünfzig Jahre vorgeführt werden.»
In Rantum, südlich von Westerland, wartet eine Überraschung auf Julia. Das Haus im Austernfischerweg 7, das sie von ihrem verstorbenen Vater Ralf geerbt hat, ist bewohnt. Seit vielen Jahren lebt dort eine Frau, Charlotte Engel. Wer ist diese Frau – und warum darf sie seit Jahren mietfrei hier wohnen? Von ihrer Mutter erfährt Julia nichts. Ihr Freund Jo, der längst mit dem Geld aus dem Hausverkauf kalkuliert, rät ihr, klare Kante zu zeigen und der unerwünschten Bewohnerin sofort zu kündigen. Für ihn ist die Sache klar: Think big! Haus verkaufen, Geld investieren, den asiatischen Markt ins Auge fassen, eine Dependance in Dubai aufschlagen. «Wäre doch cool, oder?» Dass es Julias Haus und Julias Entscheidung ist, daran scheint Jo keinen Gedanken zu verschwenden.
Für die nächsten Tage mieten sich die vier in der Weißen Villa in Rantum ein. Weil es einfach keine andere Unterkunft gibt, auf die sich die kapriziösen Damen einigen können: In Pension A gibt es Haustiere (Christiane: Katzenhaarallergie!), während Pension B so strandnah liegt, dass man ständig wildes Meeresrauschen im Ohr hat (Annegret: Brandungsallergie!). Julia ist schwer genervt von den Befindlichkeiten und Empfindlichkeiten des 60-plus-Trios! «Tante Annegret isst nur Fleisch von österreichischen Bio-Rindern, Tante Christiane möchte ihre Mahlzeiten entweder low carb oder wenigstens low fat und mit mindestens einem Glas Weißwein serviert haben. Auf zwölf Grad gekühlt. Und Mama schweigt oder singt ein Loblied auf meinen Vater, was ich angesichts ihrer zerrütteten Ehe mehr als seltsam finde.»
Sylt! Fast schon eine Liebeserklärung ...
Julia ist überrascht, im Besitzer der Weißen Villa genau den Mann wiederzutreffen, der ihr in der Bäckerei von Rantum das letzte belegte Brötchen vor der Nase wegschnappte: Mats Christensen. «Sein Outfit entspricht allen Sylt-Klischees: hellblaues Baumwollhemd, die Ärmel hochgekrempelt, dunkelblonde zerzauste Haare und in der Hand eine verspiegelte Sonnenbrille.» Als erfahrene Leser/-innen von Feel-good-Romanen ahnen wir, dass es bei Julias harscher Ablehnung des smarten Enddreißigers vermutlich nicht bleiben wird. Wieso sonst hätte Mats ihr einen ganzen Tag lang seine Lieblingsstellen auf der Insel zeigen sollen: pittoreske Häuschen, einen alten Friedhof, Strandpassagen, ein verträumtes Café? Aber Mats verschweigt auch die Schattenseiten der «High-Society-Insel» nicht:
«Reiche Leute erwerben auf Sylt Häuser und nutzen sie als Feriendomizil. Aber auch als Anlageobjekte. Eine vergleichbare Rendite, wie man sie zurzeit bei Immobilien erzielt, findet man bei kaum einer Geldanlage. (...) Problem dabei ist, dass diese Häuser dann oft nur zur Ferienzeit bewohnt werden. Den Rest des Jahres stehen sie leer. In manchen Monaten, vor allem im Winter, liegen inzwischen ganze Straßenzüge im Dunkeln ... Einheimische ziehen fort, weil sie sich Mieten von 20 Euro pro Quadratmeter nicht leisten können. Es gibt kaum noch Schulen und auch keine Geburtsklinik ... Die Sylter leben auf dem Festland, ihre Insel gehört den Maklern. Das macht mich wütend.»
Je mehr Julia sich innerlich gegenüber Mats öffnet, umso mehr lässt sie sich auch auf die Reize der Insel ein. Sie spürt, wie gut es ihr tut, endlich einmal das Büro Büro sein zu lassen. Einfach in den Tag hinein zu leben. Sich an Licht und Luft, an Wind und Wellen zu erfreuen. «Noch immer leuchtet der Himmel in strahlendem Blau, und ich werde angesichts seiner unfassbaren Weite plötzlich wehmütig. Warum sind Mama und Papa niemals mit mir nach Sylt gefahren? Von Hamburg ist die Insel doch so nah. Weshalb haben sie überhaupt nie von dem Haus im Austernfischerweg erzählt?»
Wie sehr ihr Vater sie geliebt haben muss, weiß Julia, als sie in Charlottes Wohnung ein von ihm geführtes Erinnerungsalbum durchblättert. Was aber zwischen den Schwestern damals vorgefallen ist, bleibt ihr ein Rätsel. Wie schon in ihrer Kindheit piesacken sich die Schwestern nach Kräften, nun eben als Damen gesetzten Alters: Christiane ist 68, Annegret 62 und Julias Mutter Beate 65. Während Annegret immer ein unstetes Leben führte, bevor sie in ihrem österreichischen Bergdorf Wurzeln schlug, ist Christiane, die Älteste, bereits als junge Frau in die USA ausgewandert. Und Beate hat Ralf geheiratet.
Irgendetwas muss damals passiert sein zwischen Christiane und Beate – aber was? Es dauert, bis sich die diffusen Bilder in Julias Kopf zu einem neuen Bild fügen. Und sie endlich in der Lage ist, die für sie drängendsten Fragen zu beantworten: Soll sie das Haus im Austernfischerweg wirklich verkaufen oder es nach den Plänen ihres Vaters behalten und umbauen? Und: Wie sehr glaubt sie noch an eine gemeinsame Zukunft mit Jo und seinen hochfliegenden Dubai-Träumen? Denn ein Satz von Mats will ihr seit ihrem großen Spaziergang nicht mehr aus dem Kopf gehen: «Zieh dir bequeme Schuhe an, und steck was gegen den Wind ein. Und mach dich darauf gefasst, dich zu verlieben...»