Jojo Moyes' neuer Roman «Wie ein Leuchten in tiefer Nacht» ist direkt nach Erscheinen auf Platz 1 der Spiegel Bestsellerliste eingestiegen. Sie schreibt über die Satteltaschen-Bibliothekarinnen von Kentucky, die in den 1930er Jahren durch die raue Berglandschaft ritten, um auch den Menschen in den entlegensten Siedlungen Bücher zu bringen oder sie im Lesen zu unterrichten. Unsere Autorin berichtet, wie sie das erste Mal von den reitenden Bibliothekarinnen hörte, warum sie mehrmals nach Kentucky reiste, um ihre Geschichte zu erzählen - und wie sie ganz unverhofft einen Ort fand, der ihrer Seele Trost schenkte.
JOJO MOYES ZUR ENTSTEHUNG VON «WIE EIN LEUCHTEN IN TIEFER NACHT»
Wer in diesen unruhigen Zeiten mit etwas zu kämpfen hat, sieht sich einer Vielzahl von Auswahlmöglichkeiten gegenüber.
Als ich zu Jahresbeginn ein Tief hatte – eine Kombination aus Erschöpfung und persönlichen Dingen –, rieten mir Freunde zu Wellness-Wochenenden, therapeutischen Retreats und Boutique-Hotels, die idyllische Ausblicke und Frieden verhießen. Doch ich landete schließlich ganz woanders: in einer winzigen Blockhütte fünf Meilen einen Feldweg hinunter im tiefsten Kentucky – einem der ärmsten Staaten Amerikas.
In dieser Blockhütte gab es keinen Fernseher, kein WLAN und kein Telefon. Trotzdem war sie in den achtzehn Monaten zuvor zu meiner Überraschung der Ort geworden, an dem ich mich am wohlsten fühlte.
Das östliche Kentucky stand nicht auf meiner Liste der Orte, die ich im Leben unbedingt einmal besuchen wollte (Ich bin nicht sicher, dass es überhaupt viele Leute auf ihrer Liste haben), doch als ich vor zwei Jahren ziellos im Internet herumsurfte, wie es Schriftsteller tun, bevor sie anfangen zu arbeiten, stieß ich im Smithsonian Magazine auf einen Artikel über eine Gruppe von Frauen, die während der Weltwirtschaftskrise in dieser abgelegenen Region lebten. Es waren die Satteltaschen-Bibliothekarinnen von Kentucky – ein Ableger von Roosevelts Arbeitsbeschaffungsprogramm –, und sie wurden eingesetzt, um mit Büchereibüchern gegen Unwissen, religiösen Fundamentalismus und Quacksalberei zu kämpfen.
Ich war fasziniert.
Die Frauen brachten enorme Strecken in unwegsamem Gelände hinter sich, trafen häufig auf Misstrauen und Ablehnung, genauso wie auf gefährliche Alkoholschmuggler und Schlangen.
Ein paar Schwarz-Weiß-Fotos zeigten ernste, entschlossene junge Frauen im Sattel vor rauen Berglandschaften.
Beinahe dreißig Jahre meines Lebens hatten mit dem Geschichtenerzählen zu tun, anfangs als Journalistin und in den vergangenen achtzehn Jahren als Schriftstellerin. Vielleicht hat es mich deshalb angesprochen. Oder vielleicht lag es an der aktuellen politischen Entwertung des Konzepts von Wahrheit und Tatsachen oder an der schleichenden Bedrohung der Frauenrechte. Oder vielleicht einfach an den Pferden (Ich mag Pferde wirklich sehr).
Wie auch immer, ich wusste einfach, dass dies eine Geschichte war, die ich schreiben musste. Das gleiche Gefühl hatte ich, als ich von einem jungen Tetraplegiker hörte, der seine Eltern davon überzeugt hatte, ihn zu Dignitas zu bringen, eine Geschichte, deren Anziehungskraft im ersten Moment für die meisten Menschen unverständlich war. Von diesem Buch – Ein ganzes halbes Jahr – wurden mit der Zeit 14 Millionen Exemplare verkauft. Also beachtete ich die Kommentare der Leute nicht, denen ich davon erzählte («Die Satteltaschen-Was?») und buchte meinen Flug nach Amerika.
Ich wusste wenig über Kentucky, abgesehen von dem republikanischen Senator Mitch McConnell, Pferderennen und Fried Chicken. Ich entschied mich für Beattyville, das im geographischen Zentrum des Projekts zu liegen schien und mit zwei Flügen und einer langen Autofahrt erreichbar war. Ich bin eine große Anhängerin der Vor-Ort-Recherche; wenn man einen Ort nicht besucht hat, wird der Text nicht richtig lebendig, und häufig führt das, was man gesehen hat, die Geschichte zu unerwarteten Wendungen.
Meine ersten Recherchen waren nicht ermutigend. Wie sich herausstellte, finden sich eher wenige Vier- oder Fünf-Sterne-Hotels, wenn man «Beattyville» in eine Suchmaschine eingibt. Tatsächlich stößt man zunächst einmal auf einen langen Artikel mit der Überschrift: «Amerikas ärmste weiße Stadt: aufgegeben von der Kohleindustrie, überschwemmt mit Drogen».
Und als ich dann über die Staatengrenze von Tennessee fuhr, vorbei an Wohnwagensiedlungen und staubüberzogenen Mobile Homes, neben denen heruntergekommene Autos parkten, während davor die Besitztümer der Bewohner zum Verkauf standen, fühlte ich mich so fremd wie kaum jemals zuvor. Ich aß Brathuhn mit Grünkohl in Diners, an deren Türen Schilder mit der Aufschrift hingen: «Es müssen Schuhe getragen werden.» Ich fuhr hinter Pick-up-Lastern mit erlegten Rehen auf der Ladefläche und kam an kleinen, makellosen Kirchen und Rasenflächen vorbei, auf denen die amerikanische Flagge aufgepflanzt war. Ich rief das Tourismusbüro von Kentucky an, die mir ein Bed and Breakfast empfahlen, das in einem der abgelegensten Teile der Red-River-Schlucht lag, in einem Tal, das fast vollständig von Bergen eingekesselt ist, und ich war fest entschlossen, dort nicht über Politik zu reden. Oder vielleicht auch überhaupt nicht.
Und dann lernte ich Barbara kennen.
Barbara Napier ist 72 Jahre alt, eine ehemalige Künstlerin mit lebhaftem Blick, herzlich und geistreich. Sie führt Snug Hollow, 350 bergige Morgen Land, auf denen verstreut Blockhütten stehen, von denen sie die meisten selbst gebaut hat. Sie hat zwei Kinder großgezogen, ohne einen Wasseranschluss im Haus zu haben, und pflanzt ihr Gemüse selbst an. In ihrem Haus stehen Regale voller Bücher. Wie die Bibliothekarinnen lässt sie sich von kaum etwas schrecken; einmal legte sie sich völlig erschöpft auf die Wiese, und als sie die Augen wieder aufschlug, erwiderte eine Berglöwin ihren Blick. («Ich wusste, dass sie Junge hat, weil ich sie beobachtet hab.») Ihre Kinder waren im Haus, und meilenweit gab es keine Hilfe. Sie war so müde, erzählte sie, dass sie sich schließlich einfach aufsetzte und schrie: «Verpiss dich!» Das Tier verschwand.
Barbaras älteste – und kleinste - Blockhütte stammt aus dem Jahr 1830. Die Wände bestehen noch immer nur aus grobgesägtem Holz, es ist gemütlich, und auf den Betten liegen Patchwork-Quilts. Ich stellte mir augenblicklich vor, ich würde in den 1930ern leben (zumindest, bis Barbara mir erklärte, wie teuer die Matratze war, auf der ich geschlafen hatte).
An diesem ersten Abend, während ich mich an die Stille gewöhnte, stellte ich fest, dass die Blockhütte kein Türschloss hatte. («Oh, so was brauchen Sie nicht. Ich wohne seit vierzig Jahren hier, und niemand hat mich je gestört.») Leider haben Schriftsteller viel zu viel Phantasie. Ich schaute zu dem dunklen Berghang hinüber, in dessen Wald ich mir Bären und bewaffnete Serienmörder vorstellte, und nahm mir vor, die ganze Nacht wach zu bleiben und tagsüber zu schlafen.
Dann, ungefähr um neun Uhr abends, echote Barbaras Stimme durch das Tal. «Jojo? Kommen Sie auf die Veranda raus.» Das tat ich und musste blinzeln.
Der dunkle Berghang schimmerte weiß, beleuchtet von Millionen sanft gleitender Lichter – Glühwürmchen oder Leuchtkäfer, deren blinkende Körper weiter oben in den nächtlichen Sternenhimmel übergingen. Es war das Schönste, was ich je gesehen hatte.
Von diesem Moment an vergaß ich Türschlösser, vergaß meine Ängste, und Snug Hollow – und Kentucky – wurden für mich zu einem magischen Ort. Ich sah vom Schaukelstuhl auf meiner Veranda aus der Morgendämmerung zu, wie sie in Rosa und Pink über die Berggipfel stieg. Ich ging in Wolken von Monarchfaltern spazieren (die Talsenke ist pestizidfrei und die Tierwelt ganz außerordentlich). Ich schob Schlangen aus meinem Weg. (Barbara: «Jojo Moyes, habe ich etwa gesehen, wie Sie eine Schlange mit einem Stock geschubst haben?» Ich (schuldbewusst): «Kann sein …» Barbara: «Woher wussten Sie, dass sie nicht bissig ist?» Ich: «Mh … sie hat nicht bissig ausgesehen?» Und so verliebte ich mich in mein Thema.
In den folgenden achtzehn Monaten kehrte ich noch zwei Mal in die Blockhütte zurück. Ich unterhielt mich mit jedem, der mit mir reden wollte, um mehr Einblick in das Leben der Satteltaschen-Bibliothekarinnen zu gewinnen, die von 1935 bis 1943 wöchentlich bis zu 120 Meilen unterwegs waren und Bücher auslieferten, aber auch, um den Tonfall und den Sprachrhythmus in diesem entlegenen Teil der Appalachen in mich aufzunehmen. Ich erlebte, genau wie die Bibliothekarinnen damals, dass die Leute misstrauisch sein konnten – sie sind es leid, als ungebildete Hinterwäldler dargestellt zu werden. Die Satteltaschen-Bibliothekarinnen gewannen das Vertrauen der Familien, indem sie mit ihnen die Bibel lasen. Sie lasen denjenigen vor, die ans Haus gefesselt waren, Kindern und durch Staublungen bettlägerig gewordenen Minenarbeitern, und sie verteilten Zeitschriften und Comic-Bände ebenso wie Romane oder Bücher zur Gesundheitspflege und Kindererziehung. Sie schufen Sammelbände aus Büchern, die zu zerfleddert zum Lesen waren. Ihre Lieferungen änderten das Leben der Menschen, und schließlich wurden sie in ihren Gemeinden sehr geschätzt. Ich saß einfach nur da und hörte zu.
Ich versuchte, mich in sie hineinzuversetzen, indem ich durch dieselbe Landschaft ritt. (Das Dach des Reiterhofs bestand aus einer zweckentfremdeten Autobahnbrücke, die Besitzerin, Andrea, hatte ihre Pferde über Craigslist gekauft und besaß ein Muli, das einen mit einem Tritt von einem Ende einer Scheune bis zum anderen befördern konnte.) Das Erste, was einen umhaut, wenn man tagsüber in diese Berge reitet, sind die gewaltigen Dimensionen und dann die Stille; es gibt kein Geräusch außer dem stetigen Klang der Pferdehufen auf dem Flintstein oder dem Blättermulch. Die Landschaft ist wunderschön in ihrer Schroffheit, nichts als Schluchten und gewaltige Felsüberhänge, unter denen die amerikanischen Ureinwohner ihren Mais gemahlen haben (Andrea zufolge kann man immer noch den Abdruck ihrer Hintern sehen). Man kann sich leicht verirren. Die meisten Wege folgen den gewundenen Flusstälern, und auch wir folgten ihnen, ließen unsere Pferde unter Bäumen ausruhen und sprachen darüber, was man tun würde, wenn man einen Bären im Vorgarten entdeckt (die Antwort: im Haus bleiben).
Die Leute aus Kentucky sind Meister im Geschichtenerzählen. Bei Barbara wird gemeinsam gefrühstückt, und das kann sich leicht bis zu zwei Stunden hinziehen. Die Sprache ist blumig und auf eine Pointe hinzuerzählen, ein sportlicher Wettbewerb (Meine Lieblingsgeschichte dreht sich um einen Farmer, der einen toten Hirschen an einer Schulbus-Haltestelle entdeckte und nach Hause rannte, um ein Nikolauskostüm anzuziehen, mit dem er sich neben den Hirschen legte, um die Kinder im nächsten Bus zu erschrecken). Die Art, auf die in den Appalachen gesprochen wird – noch immer beeinflusst von der Förmlichkeit ihrer elisabethanischen Vorfahren – und das Temperament ihrer Bewohner haben mein Schreiben durchdrungen, und ich schrieb wie im Rausch, ohne Pause, ohne Wochenenden und ohne Ferien.
Ich wanderte in den Bergen, beobachtete wilde Truthähne, die mit plumpem Flügelschlag aus hohem Wiesengras aufflatterten, und Bussarde, die über kahlen Bäumen schwebten. Ich vertiefte mich in die wechselhafte Geschichte Kentuckys, die brutalen Bedingungen in den Bergwerken, die Natur, die durch skrupellose Firmeninteressen ausgebeutet wurde, und ich grübelte darüber, wie es kommt, dass sich die Geschichte immer wiederholt. Und während der ganzen Zeit bewunderte ich die Schönheit dieses Landes und die Liebenswürdigkeit und den Charme seiner Bewohner.
Das Buch, Wie ein Leuchten in tiefer Nacht, wurde am 1. Oktober veröffentlicht. Es hat mir die besten Kritiken meiner Laufbahn gebracht. Universal hat die Filmrechte optioniert, noch bevor es herausgekommen war. Manchmal muss man auf sein Bauchgefühl hören. Aber noch wichtiger ist, dass mir dieses Buch meine Leidenschaft für das Schreiben zurückgegeben hat, und ich bin stolzer darauf, als auf irgendetwas anderes, das ich, abgesehen von echten Menschenwesen hervorgebracht habe.
Ich hatte Barbara das Manuskript geschickt, bevor es an meine Lektorin ging, weil ich wusste, dass sie – wenn sie den Eindruck gewinnen würde, ich hätte die Welt der Appalachen falsch dargestellt – mir das ohne Umschweife sagen würde. «Du machst mich fertig. Musste heute mein Abendessen ausfallen lassen, um zu lesen», kam ihre Antwort. Sie gab mir ein paar sprachliche Hinweise, und schließlich reichte ich das Manuskript bei meinem Verlag ein. Ich erzählte Barbara nicht, dass ich das Buch ihr gewidmet hatte.
Meine Zeit in Kentucky war noch nicht vorbei. Im Mai kam ich wieder am Flughafen von Lexington an, und Barbara erwartete mich dort, obwohl es schon sehr spät war. Dieses Mal war Kentucky für mich kein Romanthema oder ein Ort, der erkundet werden sollte, um in eine Erzählung einzugehen: Es war eine Zuflucht. Ich verbrachte eine Woche in dem kleinen Blockhaus, ging allein spazieren, unterhielt mich mit Barbara beim Essen oder hörte den Musikern zu, die bei ihr wohnen und buchstäblich für ihr Essen singen.
Ich begann, mich mit der Stille wohlzufühlen. Ich habe phantastisch gegessen (Barbara ist eine Spitzenköchin). Die Dimensionen und die Schönheit der Landschaft und das Fehlen digitaler Ablenkung ließen meinen Gedanken den Raum, um sich auf eine gewisse Art zu ordnen. Ich dachte über die Stärke, den Mut und den Einfallsreichtum der Frauen nach, über die ich geschrieben hatte, und das verschaffte mir eine Perspektive. Ich hörte zu, wenn andere Menschen ihre Geschichten erzählten, und im Vergleich dazu schienen meine eigenen Probleme lösbar. Und es gab auch viel zu lachen.
Die meisten von uns finden einen Ort, der zu ihnen spricht, wenn die Seele Trost braucht – wenn wir es zulassen, auf diese Stimme zu hören –, und für mich entpuppte sich das gegen alle Wahrscheinlichkeit als ein kleines Tal im ländlichen Amerika. Ich kehrte mit der Zuversicht nach Hause zurück, die sich mit dem Wissen einstellt, dass man irgendwo auf der Welt einen Ort hat, der immer ein Auffangnetz sein wird.