Anita Blasberg, preisgekrönte Journalistin, geht den Ursachen für den Vertrauensverlust in den eigenen Staat nach. Packend und schonungslos rekonstruiert sie die schrittweise Erosion des Vertrauens in den letzten dreißig Jahren – am Beispiel ihrer eigenen Mutter und entlang historischer Bruchstellen und Protagonisten. «Anita Blasberg erzählt so unaufgeregt wie eindringlich, warum das Vertrauen von immer mehr Deutschen in ihren Staat so erschüttert ist. Sie zeigt, was das macht mit unserem Land – und mit den Menschen, im Osten wie im Westen.» (Florian Illies)
VERTRAUEN. «Anders als die Affen leben Menschen heute meist in ziemlich anonymen Verbänden. Unsere Welt ist immer grenzenloser geworden, immer schneller und komplexer. Kaum einer kann sie mehr überblicken. Unser Leben basiert auf Vertrauen, ohne dass wir es merken. Wir essen Dinge, die in Ländern hergestellt werden, in denen wir noch nie waren. Wir steigen in Flugzeuge, die von Maschinen gesteuert werden, die wir nicht verstehen. Wir vertrauen darauf, dass Geld aus dem Automaten kommt, dass die Spritze einer Impfung wirkt, dass alle Autofahrer bei Rot bremsen. Ohne Vertrauen, schreibt der Soziologe Niklas Luhmann, könnte der moderne Mensch gar nicht sein Bett verlassen: ‹Unbestimmte Angst, lähmendes Entsetzen befielen ihn.› Ohne Vertrauen könnten wir nichts im Internet einkaufen, keine Überweisung im Voraus tätigen. Ohne Vertrauen würden weder der Kapitalismus noch die Demokratie funktionieren.»
VERTRAUENSVERLUST. «Vielen Menschen in diesem Land ist ihr Vertrauen abhandengekommen, nicht ein wenig, sondern fundamental. Und dieser Verlust betrifft nicht nur ein paar wenige am Rand der Gesellschaft. (…) Begann es mit Kohls Spendenaffäre? Schröders Agenda 2010? Dem Kosovo-Krieg? Ist es nun zwanzig Jahre her, dreißig – oder noch viel länger? Wann es genau anfing, weiß ich beim besten Willen nicht mehr. Aber ich weiß ziemlich sicher, womit es endete. Es war im April 2020, die Welt hatte gerade gelernt, das Wort SARS-Cov-2 zu buchstabieren …»
MAMAS WELTSICHT. «Mama ist 71, in den Siebzigern verehrte sie Helmut Schmidt, in den Achtzigern begeisterte sie sich für die Grünen, es musste doch Fortschritt geben. Sie hat die deutsche Verfassung gelesen und Bundestagsdebatten im Fernsehen verfolgt. Wenn sie über die Wiedervereinigung spricht, kommen ihr heute noch die Tränen. Fünf Jahrzehnte lang wählte diese Frau mit großem Ernst, mal strategisch, mal voller Überzeugung. Heute muss sie sich zur Wahl zwingen. Sie misstraut dem Bundeskanzler ebenso wie den meisten Parteien. Sie hält viele Medien für naiv, die Institutionen für abgehoben. (…) Meine Mutter hat ihr Vertrauen in das gute Wollen der Politik nicht nur verloren, sie befürchtet inzwischen, dass sie ihr Böses will. Sie sagt: «Ich werde das Gefühl nicht los, dass man die Bevölkerung künftig kontrollieren möchte.»