Als am 11. Juli 1960 Harper Lees «Wer die Nachtigall stört …» (im Original: «To Kill a Mockingbird») erschien, ahnte niemand, dass der Roman Weltkarriere machen würde. Die aufrüttelnde Geschichte über ein rassistisches Verbrechen in den 1950er Jahren im fiktiven Städtchen Maycomb in Alabama (1962 von Robert Mulligan verfilmt mit Gregory Peck in der Rolle des Anwalts Atticus Finch) zählt für Generationen von Menschen zu den wichtigsten Leseerlebnissen. Nun erscheint der große amerikanische Klassiker in einer von Nikolaus Stingl behutsam überarbeiteten Übersetzung.
Wie bei «Tom Sawyer»: das Südstaatenleben in Sepiafarben gemalt
Maycomb, Alabama. Das aufgeweckte Mädchen Scout und ihr älterer Bruder Jem bekommen hautnah mit, wie perfide Rassismus im amerikanischen Süden funktioniert, als ihr Vater Atticus Finch zum Pflichtverteidiger von Tom Robinson bestellt wird. Der schwarze Farmarbeiter wird beschuldigt, ein weißes Mädchen vergewaltigt zu haben. Dass Robinson nicht der Täter sein kann, ist offensichtlich. Was aber nichts daran ändert, dass er für die weiße Mehrheit samt ihrem Lynchmob und die weiße Jury des Gerichts nur eines sein kann: schuldig. Wenn Weiß gegen Schwarz steht, gibt es keinen Zweifel, wer «Recht» bekommt und wessen Leben auf Dauer ruiniert wird. Tom Robinson hat keine Chance – am Ende wird man ihn zur Strecke gebracht haben.
Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive der achtjährigen Scout. Bei allem Schrecken, den die Treibjagd auf ihren Vater und seinen Mandanten darstellt, nehmen wir durch Scouts Augen auch den Zauber einer Kindheit im Süden der Vereinigten Staaten in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts wahr. Der Anwalt und Abgeordnete Atticus Finch mit seinem Mut und unerschütterlichen Gerechtigkeitsempfinden, der Nachbarjunge Dill (inspiriert von Harper Lees Kindheitsgefährten Truman Capote), der menschenscheue, geheimnisvolle Boo Radley und natürlich die Finch-Geschwister – Harper Lees Geschichte lebt von ihren starken Figuren.
Klassiker, Nationalroman, Lieblingsbuch von Generationen: Kein Wunder, dass Harper Lees Pulitzerpreis-dekorierter Roman ein Welterfolg wurde. Unklar ist, wie oft er bis heute verkauft wurde, die Zahlen schwanken zwischen 30 und 40 Millionen. Aber in diesen Erfolgsdimensionen sind ein paar Millionen mehr oder weniger auch mehr oder weniger irrelevant.
Hier einige Passagen aus Felicitas von Lovenbergs Nachwort.
Ein Klassiker, den jeder irgendwie zu kennen glaubt – wie die Bibel, «Pu der Bär» oder Harry Potter»
Felicitas von Lovenberg: « Die erneute (oder erste) Lektüre fördert ein Buch zutage, das sogar noch um einiges besser, nämlich lebendiger ist als in der Erinnerung. Wie jedes Meisterwerk lässt sich der Roman auf verschiedenen Ebenen lesen: als aufrüttelndes Plädoyer gegen Rassismus und für Zivilcourage, als Auseinandersetzung mit einem Rechtssystem, das keine Unvoreingenommenheit garantiert, als Porträt des «Southern way of life» und als Entwicklungsgeschichte des Wildfangs Jane Louise «Scout» Finch.
Vor allem aber handelt das Werk von dem einsamen Kampf eines Anwalts um – ja, um was eigentlich? Atticus Finch will erreichen, dass der offenkundig unschuldig wegen Vergewaltigung einer Weißen angeklagte Schwarze Tom Robinson freigesprochen wird, also dass ihm wenigstens vor dem Gesetz jene Gerechtigkeit widerfährt, die als Gleichbehandlung in den amerikanischen Südstaaten der dreißiger Jahre noch weit entfernt ist. Darum kann Atticus Finch auch nicht an die Möglichkeit eines Sieges glauben. Vielmehr muss er es schon als Erfolg verbuchen, dass die Geschworenen stundenlang über den Fall beraten, bevor sie das erwartete Urteil fällen. (…)
Weit mehr als den Hintergrund für das Prozessdrama bietet die Kleinstadt Maycomb, ein verschlafener Ort in Alabama, exemplarisch für die Gesellschaft, in der die Autorin selbst aufgewachsen ist. Mit wenigen Sätzen entwirft Lee das Bild einer «müden, alten Stadt», in der die Uhren langsamer gehen als anderswo. Der beherrschende Eindruck ist der der Gemächlichkeit: «Niemand beeilte sich, denn man konnte nirgends hingehen, es gab nichts zu kaufen, zumal man kein Geld hatte, und außerhalb von Maycomb war ebenso wenig los.»
Nichts fürchten als die Furcht selbst …
So unaufgeregt und sachlich lässt sich die Verfasstheit einer Gemeinschaft zur Zeit der Weltwirtschaftskrise schildern. Und dann kommt einer dieser großartig lakonischen, dabei doch kraftvollen Harper-Lee-Sätze, die die Zeit in den Roman holen, sie aber zugleich auf Armeslänge halten: «Einige Leute huldigten einem vagen Optimismus: Kürzlich war den Bewohnern von Maycomb County mitgeteilt worden, dass sie nichts zu fürchten brauchten als die Furcht selbst.» Der berühmte Satz, den Präsident Franklin D. Roosevelt bei seiner ersten Amtseinführung sprach, bringt uns ins Jahr 1933.
Die Langsamkeit, die Maycomb County überwölbt wie die Glocke sommerlicher Hitze, ist Programm. Zu Harper Lees vielen guten Eigenschaften als Erzählerin gehört die Fähigkeit, Menschen und Zustände so zu schildern, dass man sie unmittelbar vor sich sieht. Das gelingt ihr, indem sie immerzu Kontraste schafft, die das Wesentliche markant hervortreten lassen. (…)»