«Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut, / In allen Lüften hallt es wie Geschrei ...» Mit diesen Zeilen leitet Jakob van Hoddis sein berühmtes Gedicht «Weltende» ein. Kein Zufall, dass es auch am Anfang von Kurt Pinthus' «Menschheitsdämmerung» steht, der bis heute Maßstäbe setzenden Sammlung expressionistischer Lyrik. Rund 270 Gedichte von 23 Dichtern, unter ihnen Gottfried Benn, Georg Trakl, Else Lasker-Schüler, Georg Heym, Franz Werfel, Albert Ehrenstein, Georg Heym, August Stramm – viele von ihnen jung gestorben, am Leben verzweifelt, aus der Heimat vertrieben, von den Nazis ermordet. Jetzt ist «Menschheitsdämmerung», «das erste Generationenbuch des 20. Jahrhunderts» (Florian Illies), in einer bibliophilen Neuausgabe erschienen.
Kurt Pinthus, Jahrgang 1886, war der bedeutendste Vermittler des literarischen Expressionismus. Er beriet den Rowohlt Verlag, war Lektor beim Kurt Wolff Verlag, in den frühen 1920er Jahren Dramaturg bei Max Reinhardt und Journalist. 1933 wurden seine Werke von den Nazis verboten, die Anthologie «Menschheitsdämmerung» verbrannt; 1937 floh Pinthus vor dem Terror der Machthaber in die USA. Von seinem amerikanischen Exil aus edierte er 1959 die Neuauflage der legendären Lyriksammlung als rororo-Taschenbuch, ehe er 1967 in die Bundesrepublik zurückkehrte. Die letzten Jahre bis zu seinem Tod im Jahr 1975 verbrachte Kurt Pinthus in Marbach am Neckar, wo er im Deutschen Literaturarchiv des Schiller-Nationalmuseums arbeitete – «als erster offizieller Nachlassverwalter des Expressionismus» (Florian Illies).
Ein Zeitalter wird besichtigt
Die Einleitung zu Kurt Pinthus' «Symphonie jüngster Dichtung» (so der Untertitel von «Menschheitsdämmerung») ist selbst große Literatur, Expressionismus pur. Sie beginnt mit der Ankündigung «Der Herausgeber dieses Buches ist ein Gegner von Anthologien – deshalb gibt er diese Sammlung heraus». Keine alphabetische, keine zeitlich chronologische Abfolge der Gedichte, stattdessen thematisch akzentuiert in den vier großen Kapiteln «Sturm und Schrei», «Erweckung des Herzens», «Aufruf und Empörung» und «Liebe des Menschen». Nicht die klassisch gereiftesten, formvollendetsten Gedichte der Epoche habe er für seine Sammlung gesucht, notierte Pinthus. Erst recht nicht all die Epigonen und Eklektiker, auch nicht jene, «deren Dichtung Kunstgewerbe des Worts, Ornament der Anschauung, gereimte Historie ist, ferner solche, die nur Zeitereignisse besingen oder freudig begleiten, kleine Spezialbegabungen und alle die, welche zwischen den Generationen stehen oder nicht den Mut zur selbständigen Formung haben».
Übrig blieben am Ende rund zwei Dutzend Dichter, für die Lyrik tatsächlich ein «Barometer seelischer Zustände» war. «Dieses Buch nennt sich nicht nur ‹eine Sammlung›. Es ist Sammlung!: Sammlung der Erschütterungen und Leidenschaften, Sammlung von Sehnsucht, Glück und Qual einer Epoche – unserer Epoche. Es ist gesammelte Projektion menschlicher Bewegung aus der Zeit in die Zeit. Es soll nicht Skelette von Dichtern zeigen, sondern die schäumende, chaotische, berstende Totalität unserer Zeit.»
Gemeinsam ist den hier versammelten Gedichten «die Intensität und der Radikalismus des Gefühls, der Gesinnung, des Ausdrucks, der Form»: Georg Heyms an Baudelaire und Rimbaud geschulte apokalyptische Beschwörungen nehmen Blut und Wahn und Grauen und Tod, kurz: die heraufziehende Katastrophe des Ersten Weltkriegs vorweg. Jakob van Hoddis' ins Visionäre gesteigerter «varietéhafter Zynismus», Gottfried Benns Verhöhnung des Kadavermenschen, Else Lasker-Schülers Freizügigkeit gegenüber den äußeren Regeln der poetischen Form – sie gehören ohne jeden Zweifel hierher, genauso wie die himmelschreiend traurigen, schönen Verse des in den ersten Weltkriegswochen von Verzweiflung gepeinigten Georg Trakl, der nach dem Versuch, sich selbst zu erschießen, in ein Krakauer Militärhospital eingeliefert wurde, wo er am 3. November 1914 nach einer Überdosis Kokain starb.
Florian Illies weist in seinem Nachwort auf eine Facette hin, die in der Rezeption von Pinthus' Sammlung expressionistischer Lyrik oft untergeht: «Doch gerade indem Pinthus ... den Bogen zurückschlägt zu den Friedenszeiten, in denen die meisten der Gedichte entstanden sind, kann er einen Band voller Wut und Schmerz und Erschütterung zu einem Vademecum des Trostes machen. (...) Das Wort von der ‹Menschheitsdämmerung› also darf keineswegs nur als Apokalypse gesehen werden, sondern eben auch als ein Heraufdämmern der Humanität in dem Moment, in dem die alten Götter und die alten Gewissheiten versunken sind.»
Genau darauf spielt Pinthus an, wenn er schreibt: «Immer deutlicher wußte man: der Mensch kann nur gerettet werden durch den Menschen (...) Die neue Gemeinschaft wurde gefordert. Und so gemeinsam und wild aus diesen Dichtern Klage, Verzweiflung, Aufruhr aufgedonnert war, so einig und eindringlich posaunten sie in ihren Gesängen Menschlichkeit, Güte, Gerechtigkeit, Kameradschaft, Menschenliebe aller zu allen.» Das ist der Grund, warum auch nach 100 Jahren Pinthus' Lyriksammlung, die bei ihrem Erscheinen schon das Ende der expressionistischen Jahre markierte, noch immer zu uns spricht.
Editorische Überlegungen zur Neuausgabe
Die bereits erwähnte Neuausgabe 1959 im modernisierten Gewand sorgte, wie Illies schreibt, erneut für Furore. «Man suchte, verstört von dem kaum vergangenen Bruch mit Kultur und Zivilisation des Zweiten Weltkriegs, nach tragfähigen Stützen in der Vergangenheit, die nicht innerlich morsch waren, man suchte nach unkorrumpierbaren deutschen Streitern für Humanität und für Zugehörigkeit zum internationalen Projekt der Moderne. So wie die Maler des deutschen Expressionismus als ‹entartet› aus den Museen entfernt worden waren, so waren auch die expressionistischen Dichter zum Teil auf dem Scheiterhaufen gelandet und in Gänze aus dem Bewusstsein verschwunden, aus Schulbüchern, Bibliotheken, germanistischen Seminaren, Buchhandlungen. Die ‹Menschheitsdämmerung› holte sie zurück.»
Editorische Vorlage der Neuausgabe von Pinthus' Sammlung ist die vierte Auflage von 1922 (15.–20. Tsd.), der letzten aus den Weimarer Jahren. Einige Fehler und Nachlässigkeiten wurden getilgt, der Untertitel vereinheitlicht («Symphonie jüngster Dichtung»); außerdem wurden die Biografien und Bibliografien erweitert und um neue Werke ergänzt, und einige Gedichte kamen noch hinzu oder wurden durch andere ersetzt. Die behutsame typografische Neugestaltung (etwa die Ersetzung leseunfreundlicher Sperrungen durch Kursivierungen) dient dem Lesefluss. Beibehalten wurden die in der Zeit des Expressionismus vor 1920 entstandenen Dichterporträts von Ludwig Meidner, Egon Schiele, E. M. Engert, Oksar Kokoschka, Else Lasker-Schüler, O. Th. W. Stein und Wilhelm Lehmbruck.