Nicht «curvy», sondern dick – ein Wort, mit dem sich Melodie Michelberger, PR-Expertin, Aktivistin und Autorin des Buchs «Body Politics», selbstbewusst beschreibt. «Ich will dieses kleine Wort, das ich früher als Schimpfwort auf dem Schulhof hörte oder auch heute noch als besorgte Warnung aus dem Mund von Ärzt:innen kenne, neu und positiv bewerten», sagt Melodie Michelberger. Dass «dick» in der deutschen Sprache nicht nur eine Körperform, sondern auch einen für viele Menschen unerwünschten Zustand beschreibt, spürt Michelberger oft. Vermeintlich freundliche, entrüstete Kommentare wie «Du bist doch nicht dick!» oder – das ist Michelbergers Lieblingssatz – «Du bist doch nur ein bisschen dick!» entlarven schnell, welche Bedeutung der:die Sprechende diesem Wort gibt.
Michelberger sagt: «Es ist anstrengend, in einem Körper zu leben, der nur mit negativ aufgeladenen Worten zu beschreiben ist. Ich möchte sagen können, dass ich dick bin, ohne dass andere davon auf meinen Charakter schließen, aber es geht nicht.» Auch deshalb hat Melodie Michelberger das Buch «Body Politics» geschrieben. Sie möchte auf die gesellschaftliche Stigmatisierung dick_fetter Menschen* aufmerksam machen, will ihre Lebensgeschichte teilen, die geprägt ist von Essstörungen und Selbsthass.
Toxische Körperbilder
Aufgewachsen in den frühen 80er-Jahren zwischen Fachwerk-Bauernhöfen, adretten Einfamilienhäusern und Obstbaumwiesen in einem kleinen Dorf in Süddeutschland, entstand der Nährboden für ihren Selbsthass schon früh im familiären Umfeld. An der heimischen Kaffeetafel wurde wie selbstverständlich über die Körper von Nachbar:innen oder Verwandten geplaudert, jede Bemerkung über «ein paar Kilo zu viel» oder andere vermeintliche Makel hallten in den kindlichen Ohren doppelt nach. Als Michelberger sieben oder acht Jahre alt war, begann ihre Mutter mit einem Weight-Watchers-Programm. Diäten und Abnehmen wurden zu omnipräsenten Themen. In dieser Phase erlebte Michelberger einen Moment, der ihr Leben nachhaltig prägte. Michelberger, die sich schon immer sehr für Mode begeisterte, erinnert sich an einen regenbogenfarbenen Rock mit stufigen Volants, den sie als Kind unbedingt haben wollte – und an den unachtsamen Kommentar ihrer Mutter, der sie wie ein Blitz traf: «Volants kannst du nicht tragen, dein Hintern ist dafür zu dick.» Dass ihre Tante ihr den Rock im Anschluss dennoch kaufte, änderte nichts an dem Gefühl, das damals entstand: «Auf einmal hatte ich keinen funktionierenden Körper mehr, sondern ein Problem.»
Die Worte ihrer Mutter ebneten den Weg in die Essstörung. Diäten wurden zu ihrer Freizeitbeschäftigung und Schuldgefühle ein ständiger Begleiter. Es folgte eine Jugend zwischen Hunger und Selbsthass, ein Arbeitsleben in der Modebranche, das ihre Wahrnehmung, nicht dünn genug zu sein, noch verstärkte, und ein Burnout, der ihr allmählich einen Ausweg aus der toxischen Selbstwahrnehmung ermöglichte. Michelberger: «Ich musste 40 Jahre alt werden, um festzustellen, dass ich mit meinem Körper in einer Zweckgemeinschaft lebte, in der ich so tat, als seien wir nicht in einem Team. Erst dann begann ich, das zu hinterfragen.»
Selbstbestimmter Befreiungsschlag
Michelberger spürte eine große Sehnsucht danach, Kraft in sich selbst zu finden. «Ich wollte meine eigene Position neu definieren», sagt sie. Die Lektüre feministischer Literatur von Autor:innen wie Laurie Penny oder Rebecca Solnit und die Arbeit fettpositiver Aktivist:innen wie BodyMary oder SchwarzRund waren für Michelberger bedeutende Stationen auf dem Weg zu einem freundschaftlichen Umgang mit sich selbst.
Sie gründete ihre eigene PR-Agentur für kleine, nachhaltige Hamburger Modelabels, setzte sich mit der Geschichte der Body-Positivity-Bewegung auseinander und teilte auf Instagram immer häufiger Bilder von sich, auf denen sie in Unterwäsche zu sehen war. Michelberger will Sehgewohnheiten durcheinanderbringen, Ungerechtigkeiten offen ansprechen und etwas kreieren, das ihrem Schmerz und ihrer Wut Ausdruck verleiht. Sie sagt: «Diese Auseinandersetzung mit meinen eigenen Formen bringt mich mir näher, und das hilft mir, ein liebenswürdiges Verhältnis zu mir aufzubauen.» Ihren Follower:innen erzählt sie offen vom einstigen Hungern und den tief sitzenden Gefühlen von Scham und Wertlosigkeit. Für Michelberger ist all das eine Form der Selbstbestimmung und ein wichtiger Befreiungsschlag.
Gefühlte Wahrheit
Auch die Arbeit an ihrem Buch war für Michelberger eine weitere wichtige Selbstannäherung, die ihr teils befreiende und teils schmerzhafte Erkenntnisse brachte. Beim Sichten alter Kinder- und Jugendfotos fand Michelberger unerwartet einen neuen Blick auf ihre Vergangenheit. Überzeugt davon, dass sie schon immer ein dickes Kind und Mädchen war, stellte sie fest: «Ich war mein ganzes Leben mehr oder weniger schlank, ich war kein pummeliges Kind, keine rundliche Jugendliche.» Und trotzdem: «Egal, wie leicht oder schwer ich war, ich habe mich ‹zu viel› gefühlt.» Ein Gefühl, das ihr Leben bestimmte. Während des Schreibens stellte sie auch fest, wie sehr sie selbst eine diskriminierende Vorstellung gegenüber dick_fetten Körpern verinnerlicht hat. «In meinem Kopf war und ist das elendige Stigma – dick_fett = wertlos – fest verankert. Nicht nur die Gesellschaft machte meinen Körper zu einem Problem, ich selber war darin richtig gut», sagt Michelberger. Seither versucht sie, sich Stück für Stück daraus zu befreien. Dabei stellt für sie auch Sprache eine Form der Selbstfürsorge dar. «Wenn ich genau hinhöre, fällt mir auf, wie unerträglich oft Gewicht ein Thema ist.» Aussagen wie «Ich fühl mich heute so fett» oder «Macht das dick?» sind allgegenwärtig. In Gesprächen mit anderen achtet sie darauf, diese «Diätsprache» zu vermeiden.
Die Auseinandersetzung mit ihrem Körper ist für Michelberger ein Prozess, eine Reise, die wahrscheinlich nie zu Ende ist. Mit dieser Idee will sie sich anfreunden. Und mit sich selbst. Michelberger: «Ich liebe meinen Körper nicht jeden Tag gleich, aber ich terrorisiere ihn nicht mehr. Ich lasse ihn sein. Es ist der einzige, den ich jemals haben werde.»
* Eine von Fettaktivist:innen etablierte Schreibweise, welche die Grenzziehung zwischen dick und fett ablehnt und aussagen soll, dass es sich um einen Körper handelt, der «außerhalb des normschlanken Ideals» steht.