Selbstisolation ist ein Teil des finnischen Lebensstils. Wer sonst hat ein Wort dafür, sich alleine in Unterhose zu betrinken? Ein Beitrag von unserem Autor Antti Tuomainen.
Eines Abends letzte Woche, nachdem ich wie jeden Tag den ganzen Tag alleine gearbeitet hatte, da ich Schriftsteller und Finne bin, nahm ich von meinem Büro aus den 17er Bus nach Hause, weil es gleichzeitig regnete und schneite. (Der Frühling ist in Helsinki angekommen.) Abgesehen vom Fahrer war ich alleine im Bus, und wir begegneten einigen Stadtbahnen und Bussen ohne Fahrgäste. Auf dem Weg sah ich einen Kerl alleine Rad fahren und einen anderen alleine joggen. So sieht Helsinki während der Ausgangssperre aus. Aber so sieht Helsinki auch an einem ziemlich gewöhnlichen Montag aus.
Ich bin, wie gesagt, Finne. Ich kann mir vorstellen, was Sie gerade denken: «Ah, er wacht in seiner Eishütte auf und ringt mit zweisprachigen Bären, bevor er weltweit führende Nachhaltigkeitstechnologien entwickelt und gleichzeitig elegante Gebäude und schlichte Vasen entwirft.» Na ja, das gehört sicherlich dazu. Sollten Sie jemals einem Finnen begegnet sein, denken Sie möglicherweise auch: «Die Finnen sind nicht besonders große Plauderer, oder?»
Im Laufe der Jahrzehnte scheint Finnland eine ziemlich beeindruckende Sammlung von Weltklasse-Dirigenten, -Formel-1-Piloten, -Architekten, -Modedesignern, -Skispringern, -Langstreckenläufern, -Filmregisseuren, -Komponisten und -Schriftstellern hervorgebracht zu haben. Und falls Sie hier einen Trend erkennen, sind Sie wahrscheinlich nicht allein. Die Wahrheit ist, dass jene es sind. Allein in ihren Cockpits, auf der Bühne, alleine schreibend in ihren Sesseln, alleine laufend in ihren Schuhen. Immer alleine – und schon aus tiefstem Herzen Abstand haltend, bevor Social Distancing zur Regel wurde.
Die wegen Covid-19 notwendigen Beschränkungen wurden hier erst ungefähr Mitte März ernsthaft eingeführt. Die Pandemie scheint über Nacht gekommen zu sein und verlief so ruhig (wir hatten bisher nur 301 Todesfälle), dass man meinen könnte, wir hätten dafür geprobt. Und vielleicht haben wir das im Grunde genommen ja auch. Um zu unseren großartigen öffentlichen Verkehrsmitteln zurückzukehren: Es gibt hier ein Comicbuch mit dem Titel Finnish Nightmares (finnische Albträume), in dem Szenarien dargestellt werden, die für Finnen tatsächlich albtraumhaft wären. In einem von diesen Szenarien sitzt ein Finne auf einem Fensterplatz in einem Bus. Das Albtraumhafte? Dass jemand auf dem Platz am Gang sitzt – und der Finne muss mit dem am Gang Sitzenden sprechen, um an ihm vorbeikommen und aus dem Bus aussteigen zu können. Es muss wohl nicht erwähnt werden, dass unsere Busse, Züge und Stadtbahnen selbst unter normalen Umständen jedem Fahrgast ziemlich viel Raum geben.
Während die Beschränkungen in Europa gelockert werden, scheint mir die große Frage zu sein: Sollten nicht alle von uns lernen? Denn scheint es nicht in Wahrheit so, als hätten wir von Anfang an alles richtig gemacht? Um es für Sie als Nicht-Finnen unverblümt zu formulieren: Sollten Sie mehr wie die Finnen sein? Diese Frage zu beantworten steht uns wahrscheinlich nicht zu. Wir sind bekanntlich bescheiden. Aber ich wäre kein Finne, würde ich Ihnen nicht eine vernünftige, praktische Schritt-für-Schritt-Anleitung geben, wie Sie vorgehen könnten.
Erstens: Bemühen Sie sich, dort zu leben, wo niemand sonst leben wollte. Ganz einfach. Suchen Sie einfach den unangenehmsten Ort auf der Landkarte, sagen wir zwischen Schweden und Russland, richten Sie sich dort Ihr Zuhause ein und erzählen Sie niemandem, wo Sie sind. Finnland ist ungefähr eineinhalbmal so groß wie das Vereinigte Königreich; es ist fast so groß wie Deutschland. Im Vereinigten Königreich leben 66 Millionen Menschen. In Finnland 5,5 Millionen. In einem Land, das größtenteils aus dichtem Wald und leeren, gut in Schuss gehaltenen Straßen besteht, ist es nicht völlig unmöglich gewesen, diesen Zeiten Rechnung zu tragen.
Zweitens: Reduzieren Sie Ihre Sozialkontakte auf ein Minimum. Wiederum: Leben Sie dort, wo es ohnehin ratsam ist, nicht vor die Tür zu gehen. Hören Sie auf, Kneipen und Cafés zu besuchen und an Veranstaltungen und Abendessen teilzunehmen und … um Himmels willen, hören Sie auf zu reden. Was für einen Nutzen hat das überhaupt? Wir haben nie angefangen zu reden, und schauen Sie, was passiert ist: Wir sind das glücklichste Land der Welt und haben – wären wir nicht zu bescheiden, darauf hinzuweisen – das beste Gesundheitssystem, die beste Bildung und das beste Roggenbrot. Zufall? Das sehen wir anders. Wenn Sie unbedingt darauf bestehen, vor die Tür zu gehen, tun Sie es allein und im Wald.
Drittens: Wenn Sie eine Party veranstalten wollen, veranstalten Sie eine. Nur tun Sie es allein. In Finnland gibt es einen Begriff dafür, wenn man es allein so richtig krachenlässt: «kalsarikänni», etwa «hosenbetrunken» auf Deutsch. Dabei sitzt man zu Hause allein auf dem Sofa, nur in Unterwäsche, betrinkt sich und schläft ein. Und alle werden sich köstlich amüsiert haben.
Viertens – und dieser Ratschlag wird für einige von Ihnen zu spät kommen: Halten Sie Ihre Familie klein. Eine Person ist ideal. Sollten es mehr Personen werden, kann es sein, dass Sie sich mit ihnen unterhalten müssen. Wir haben kleine Familien.
Schließlich – und das kommt wahrscheinlich für Sie alle zu spät: Sprechen Sie eine Sprache, die keiner versteht. Das ist ein toller Trick, um die Reisenotwendigkeit zu verringern. Warum sollte man irgendwohin reisen, wo einen keiner versteht? Ebenso wird kein neugieriger Ausländer Sie lange nerven, wenn Sie etwas Unverständliches brummeln und versuchen, ihn in eine Sauna zu zerren.
Ich befand mich in einer öffentlichen Sauna, einem meiner Lieblingsorte, als ich erfuhr, dass wegen des Virus alle öffentlichen Saunen geschlossen würden. Ich tauschte sechs oder sieben leise Worte mit einem anderen Saunagänger aus. Wir befanden, dass es keinen Anlass zur Panik gäbe. In einem Land mit 5,5 Millionen Menschen gibt es mehr als eine Million Saunen. Also suchen wir uns nun unsere eigene private Sauna und schwitzen allein. Aus irgendeinem Grund ist das für mich noch kein Problem gewesen.
Antti Tuomainens jüngster Roman, «Klein-Sibirien», übersetzt von Niina Katariina Wagner und Jan Costin Wagner, ist ein Buch des Jahres des Crime Club der britischen Sunday Times.