Am 30. April 2024 verstarb nach längerer Krankheit Paul Auster, einer der herausragenden Autoren der US-amerikanischen Literatur unserer Gegenwart. Im Laufe eines langen Schriftstellerlebens publizierte Auster 16 Romane, zahlreiche essayistische Arbeiten, Gedichte und Sachbücher. Seit 1989 erschienen die deutschen Übersetzungen seiner Bücher im Rowohlt Verlag, eine lang andauernde und tiefe Verbindung, die uns den Verlust umso schmerzlicher spüren lässt.
Geboren am 3. Februar 1947 in Newark, New Jersey, als Sohn einer kleinbürgerlichen jüdischen Familie, wuchs Auster in bescheidenen Verhältnissen auf. Seine Großeltern väterlicherseits waren zwei Generationen zuvor aus Stanislau in Galizien (dem heute ukrainischen Iwano-Frankiwsk) eingewandert; auch seine Mutter hatte ukrainisch-polnische Vorfahren. Früh begann Auster Gedichte zu schreiben. Von 1968 an studierte er Literatur an der Columbia University in New York. Während eines dreijährigen Aufenthalts in Paris war er in engem Austausch mit Samuel Beckett, der seine schriftstellerische Arbeit maßgeblich beeinflusste.
Austers literarischer Durchbruch erfolgte Mitte der achtziger Jahre mit den in rascher Folge publizierten Romanen Die New York-Trilogie und Im Land der letzten Dinge, die ihn schlagartig berühmt machten – drei experimentelle Kriminalromane und eine apokalyptische Dystopie, in allen ein Mix aus raffiniertem Plot, detektivischen Scharaden, metafiktionalen Spiegelungen, existenzialistischer Aura und literarischen Referenzen, die ihm die anhaltende Aufmerksamkeit der literarischen Welt und eines großen Publikums sicherten - in seinem Heimatland und vor allem auch in Europa.
Es folgten zahlreiche weitere Romane, in denen er grundlegenden Sinnfragen nachspürte, mit einer unverwechselbaren erzählerischen Meisterschaft, die als «Auster-Sound» ein stehender Begriff wurde (bei den meisten seiner Werke von Werner Schmitz kongenial ins Deutsche übersetzt). Ein herausragendes Merkmal seines Schreibens bestand darin, reales und phantasiertes Leben so raffiniert ineinandergreifen zu lassen, dass seine Romane zugleich akkurate Porträts ihrer Zeit und Wunder an Imagination waren. Eine wichtige Rolle spielten darin stets das Schicksal und der Zufall. «Ja, alles war möglich, und nur weil etwas auf eine bestimmte Weise geschah, hieß das noch lange nicht, dass es nicht auch auf eine andere Weise geschehen konnte», lässt Auster in 4321, dem Opus magnum, das er selbst doppelsinnig als „das Buch meines Lebens“ bezeichnete, eines seiner vier dort auftretenden Alter egos sagen. Das tausendseitige Werk ist ein Sittenbild Amerikas in den Sechzigern, ein Porträt der Gegenkultur, ein prismatischer Coming-of-Age-Roman, eine postmodern verfremdete Autobiografie und vor allem eine Eloge auf den Zufall, in der alle Motive der Auster'schen Prosa noch einmal zusammenfanden.
Es folgten mit In Flammen eine umfassende Biographie seines amerikanischen Schriftstellerkollegen Stephen Crane sowie, als eine Art Coda zu 4321, der Ende letzten Jahres erschienene Roman Baumgartner, der die tragikomische Sinnsuche eines alternden Intellektuellen beschreibt. Auster sah sich immer auch als politischen Autor. Mit dem Aufstieg Donald Trumps und während dessen Präsidentschaft von 2016 bis 2020 rief er, zusammen mit seiner Frau, der Schriftstellerin und Wissenschaftlerin Siri Hustvedt, offen zum Widerstand gegen die Gefährdung der Demokratie in den USA auf. Unter anderem war er vor der Wahl 2020 Mitbegründer der Initiative «Writers Against Trump», die sich dafür einsetzte, die Wiederwahl des Mannes zu verhindern, den er nur «the monster» nannte. Im vergangenen Jahr erschien das Buch Bloodbath Nation, in dem Auster sich auf sehr persönliche Weise mit der Waffenliebe seiner Landsleute und deren historischen Wurzeln auseinandersetzte.
Für sein literarisches Werk wurde Auster mit zahlreichen Preisen wie dem Prinz-von-Asturien-Preis und dem Prix Médicis étranger ausgezeichnet; er war Ritter der französischen Ehrenlegion, hatte zwei Amtszeiten lang den stellvertretenden Vorsitz des amerikanischen PEN inne und war Mitglied sowohl der American Academy of Arts and Letters als auch der American Academy of Arts and Sciences. Aus seinem Werk und seinen vielfältigen Interessen ergaben sich Kooperationen unter anderem mit der Aktionskünstlerin Sophie Calle, dem Seiltänzer Philippe Petit, den Comiczeichnern David Mazzucchelli und Paul Karasik sowie dem Schriftsteller J.M. Coetzee.
Immer wieder unternahm Auster Ausflüge in die Welt des Films. Als Drehbuchautor tat er sich in dem Doppelfeature Smoke und Blue in the Face von Wayne Wang hervor, in dem die erste Garde bekannter New Yorker Schauspieler und Musiker von Harvey Keitel bis Madonna auftrat; spätere Werke als Regisseur umfassten Lulu on the Bridge und Das Innenleben des Martin Frost.
Paul Auster war New Yorker mit Leib und Seele. Die Stadt ist konkreter Hintergrund wie verrätseltes Motiv in all seinen Büchern, sein literarischer Ort - eine überschäumende Megalopolis, die er in all ihren grellen Highlights und dumpfen Niederungen in den Blick nahm. 1980 zog er mit Siri Hustvedt nach Brooklyn, lange bevor dieser Stadtteil New Yorks zu einem Ort der Künste und der Intellektuellen wurde.
Im Frühjahr 2023 machte Siri Hustvedt die schwere Krankheit ihres Mannes in einer bewegenden Instagram-Botschaft öffentlich. Sie hat ihn auf seinem Weg durch Cancerland, wie sie es nannte, bis zuletzt begleitet. Nun ist Paul Auster im Alter von 77 Jahren gestorben.