Am 30. Mai, ist der Schriftsteller Friedrich Christian Delius mit 79 Jahren in Berlin gestorben. Seit fast sechs Jahrzehnten gilt er als herausragender Chronist seiner Zeit, hat in dieser Spanne mehr als fünfunddreißig Bücher veröffentlicht, die sich zu einem Werk gefügt haben – einem Werk von großer Beständigkeit, von großer Klarheit und Kraft. Zugleich bestach er – Erzähler, Spieler, Poet – stets durch Vielseitigkeit und die Musikalität seiner Prosa.
Im Februar 1943 in Rom geboren, wo sein Vater Pfarrer der Deutschen Evangelischen Kirche war, in Hessen aufgewachsen, ging er seinen Weg in die Welt: Mit 18 veröffentlicht er seine ersten Gedichte, 1964, mit 21, ein Jahr nach seinem Abitur, stößt er zur Gruppe 47; er ist 22, als sein erstes Buch, der Gedichtband «Kerbholz», im Wagenbach Verlag erscheint. 29 schließlich, als Siemens gegen seine 1972 erschienene Dokumentarsatire «Unsere Siemens-Welt» einen Prozess anstrengt und er dem Weltkonzern Paroli bietet.
Delius‘ Romane und Erzählungen, übersetzt in mehr als zwanzig Sprachen, spiegeln deutsche Geschichte und Mentalitätsgeschichte, lassen die wichtigen Zäsuren nach dem Zweiten Weltkrieg lebendig werden: «Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde» etwa ist an das Schlüsseljahr 1954 geknüpft, an das «Wunder von Bern», «Amerikahaus und der Tanz um die Frauen» an die Aufbruchsstimmung, die zu spüren war, bevor es zu den ideologischen Verhärtungen von ’68 kam, die Deutsche-Herbst-Trilogie an den Terror der RAF, «Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus» an die Erfahrung der deutschen Teilung, «Die Birnen von Ribbeck» an die deutsche Wiedervereinigung.
Und da ist der Mittler zwischen Ost und West, der wie nur wenige andere Schriftsteller geholfen hat, Autoren aus der DDR im Westen bekanntzumachen, auch in seinem knappen Jahrzehnt als Lektor, zuerst für den Wagenbach Verlag, dann für den Rotbuch Verlag. In den sechziger und siebziger Jahren hat Delius fleißig über die Grenze geschmuggelt, «aber immer nur wenige Seiten», erinnerte er sich, «einiges von Biermann, Gedichte von Kunert, Berger, Mickel, Bartsch bis hin zu ein paar Sachen von Brasch und Heiner Müller, zum Beispiel die ‹Hamletmaschine›, die ja so dünn ist, dass sie unauffällig unter das Unterhemd passte, im Gürtel eingeklemmt. Wenn man sich gerade hält, ist das kein Problem.»
Delius hat sich nie wie ein Historiker bewusst einem Stoff zugewandt, sein Schreiben ging ganz auf seine Zeitgenossenschaft zurück, auf die Fragen, die er an die unmittelbare Gegenwart hatte, auf den Versuch, sie zu verstehen. Auch die autobiographisch gefärbten Werke sind entstanden, als für ihn die Fragen an die eigene Lebens- und Familiengeschichte drängend wurden. Lange ist Delius mit Selbstauskünften recht zurückhaltend gewesen, heute jedoch gehören diese autobiographischen Erzählungen mit zu seiner stärksten Prosa, sei es «Bildnis der Mutter als junge Frau», «Die Zukunft der Schönheit» oder sein zuletzt, 2021, erschienener Erzählungsband «Die sieben Sprachen des Schweigens».
Friedrich Christian Delius zählt zu den bedeutendsten Autoren der deutschen Gegenwartsliteratur. Vielfach ausgezeichnet, wurde er 2011 mit dem Georg-Büchner-Preis geehrt. Er war Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Akademie der Künste Berlin.
Rowohlt-Berlin-Verleger Gunnar Schmidt, der auch sein Lektor war: «Friedrich Christian Delius hat als Zeitgenosse geschrieben, als wacher Beobachter, aus dem Fluss der Dinge heraus – dicht an der Gegenwart, dicht am Leben. Er war ein Seismograph individueller und gesellschaftlicher Erschütterungen, ein feinnerviger Porträtist seiner Zeit, der lyrische Elemente mit dokumentarischen verwebt. Ein Autor, der sich hochsensibel in seine Figuren einfühlt und zugleich souverän das Leben aufschlüsselt, in das diese hineingestellt sind, der, allergisch gegen alles Ideologische, das Abstrakte nicht liebt. Ein Autor mit Neugier auf die Welt, mit Phantasie, Intuition und Menschenkenntnis. Seine Stimme wird fehlen.»
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