In Zeiten der Verunsicherung verschiebt sich mitunter der Blickwinkel auf unsere Welt – und bei einigen von uns auch wortwörtlich. Viele arbeiten in diesen Tagen mobil, in ihren eigenen vier Wänden und mit neuer Aussicht. Und vielen fällt es schwer, mit dieser Situation umzugehen. Drinnen zu bleiben und nicht zu wissen, was noch auf uns zukommt.
Wie viele andere machen wir Rowohltianer uns Sorgen - um unsere Familien, Freunde und Bekannte und um unsere Autor*innen. Einige unserer Autor*innen haben wir gefragt, wie sie mit der Pandemie leben. Was sie gerade beschäftigt. Einige der Texte, die uns erreicht haben, sind humorvoll, viele machen nachdenklich und ein paar auch traurig, die meisten geben uns aber Hoffnung. Hoffnung, dass wir diese Krise gemeinsam irgendwie überstehen werden.
«7:45 Uhr (Sandra Lüpkes) - Der Radiowecker spielt «Bring on the Night» von The Police. «I couldn’t stand another hour of daylight», singt Sting. Gestern hätte ich ihm noch recht gegeben. Da hab ich mich regelrecht aufs Schlafen gefreut, weil ich immer sehr farbig und mit allen Sinnen träume, zum Beispiel dass ich mit meinen Töchtern auf einer lustigen Party mit vielen gut gelaunten Menschen leckeres Fingerfood esse. Aber heute Nacht habe ich das erste Mal im Corona-Modus geträumt, also mit Sicherheitsabstand und Gesichtsmaske und den Töchtern unzählige Kilometer weit entfernt in ihren Studienorten. Das ist ungerecht! Wenigstens im Schlaf hätte doch mal alles bleiben können wie früher. Der Song ist vorbei. Nachrichten. Zahlen von Neuinfizierten in Berlin. Ich dreh mich zu meinem Mann um. «Guten Morgen, Liebster.»
8:30 Uhr (Jürgen Kehrer) - Während Sandra den Tee kocht, mache ich das, was ich immer vor dem Frühstück mache: die Tageszeitung kaufen. Darf man ja – der Laden ist nach wie vor offen (Zeitungen gehören zu den Dingen des täglichen Bedarfs, Bücher leider nicht). Außerdem genieße ich es, morgens mal rauszugehen, wenn auch nur hundert Meter hin und wieder zurück. Routine also, nur im Inneren hat sich der Laden erheblich verändert: Die Mitarbeiter haben aus vollen Bierkästen (abends verwandelt sich das Geschäft normalerweise in einen Späti) einen IKEA-ähnlichen Parcours aufgebaut, den ich durchlaufen muss, bevor ich bis zum Zeitungsständer vordringe. Alle paar Meter kleben auf dem Boden Wartestreifen, zwecks Vereinzelung rücken wir Kunden von einem Streifen zum nächsten vor, irgendwie bekommt die Zeitung dadurch einen ganz anderen Wert. Und endlich bin ich mit meiner Beute wieder zu Hause. Was wäre das Frühstück ohne die gemeinsame schweigsame Zeitungslektüre?
10:00 Uhr (Sandra Lüpkes) - Verabredung zum Podcast, Stöpsel im Ohr, Mikro scharf geschaltet. Pünktlich klingelt das Handy, die Journalistin ist auch im Homeoffice und freut sich über jeden Termin im Kalender. Mir kommt es vor, als seien Verabredungen in diesen Zeiten verbindlicher als sonst. Und als brächten die Gesprächspartner mehr Geduld mit. Erst mal in Ruhe nachfragen, wie sich der Mensch am anderen Ende der Leitung fühlt und mit der Lage zurechtkommt. Kann man gesellschaftlich auf der Haben-Seite verbuchen. Ich war nie gut in Mathe. Aber schönrechnen kann ich prima. Anschließend verschicke ich meine Audios per WeTransfer an die Journalistin. Wie viele wunderbare Texte da wohl derzeit durchs Netz flattern? Huch, es ist schon halb zwölf. Kaffeepause. Jürgen einen Latte macchiato, ich einen Lungo. Gestern, heute und morgen auch. Wir pflegen die Routine. Unsere Arbeit ist schließlich spannend genug.
12:00 Uhr (Jürgen Kehrer) - Das nächste Telefongespräch ist für Sandra und mich gemeinsam: Ein Produzent bespricht mit uns den Pitch für einen Fernsehfilm, den wir vor ein paar Tagen eingereicht haben. Business as usual, die Planungen für den Herbst und das nächste Jahr laufen normal weiter. Zum Glück, denn der Ausfall sämtlicher Lesungen im Frühjahr reißt tiefe Löcher, dazu kommt noch der voraussichtliche Rückgang der Buchverkäufe. Da ist es gut, dass wenigstens ein Arbeitsfeld weiter funktioniert. Natürlich ist auch die Filmbranche in die Corona-Krise geraten, Außendrehs sind zurzeit nicht möglich, Produktionen werden unter Auslotung terminlicher und vertraglicher Grenzen in den Sommer und den Herbst verschoben. Als Drehbuchautoren freuen wir uns da über jedes langfristige Projekt.
13:00 Uhr (Sandra Lüpkes) - Mittagspause - Käsebrot und Gürkchen. Ein kleiner Obstsalat mit Joghurt. Wir lieben unseren Supermarkt, er ist ein Fels in der Brandung.
14:00 Uhr (Jürgen Kehrer) - Tatsächlich, ich schreibe. Die anfängliche Angst vor der großen öden Leere, die mich bei der Schließung aller öffentlichen Einrichtungen, Kinos, Restaurants und der Verhängung des Kontaktverbots überfallen hat, ist längst verflogen. Statt über mehr Zeit zu verfügen, kommt es mir so vor, als hätte ich weniger Zeit. Die Interviewanfragen nehmen schlagartig zu, viele kreative Ideen für gemeinsame Aktionen schwirren durchs Netz. Klar, ich könnte eine Menge Sinnvolles und weniger Sinnvolles tun, nur … ab und zu muss ich ja auch noch arbeiten. Und was ist mit dem täglichen Spaziergang, den ich mir vorgenommen habe? Ganz zu schweigen davon, dass ich mein Italienisch mit einem Internet-Kurs auffrischen will.
16:30 Uhr (Sandra Lüpkes) - Vor der Haustür treffe ich mich mit Nachbarin Gabi, die in der Pflege arbeitet und mit der ich immer mal ein paar Schritte um den Block laufe. Mit Sicherheitsabstand. Also, zwischen uns. Aber auch zwischen Corona und uns. Man muss schließlich auch mal über was anderes reden. Zum Beispiel: Was für Leute sind das bloß, die einfach durchgelegene Matratzen auf den Bürgersteig stellen? Bekloppte! Jawohl! Genau dieselben, die im Supermarkt das Klopapier … Oh, Mist, wir wollten doch eigentlich das Thema wechseln.
18:00 Uhr (Jürgen Kehrer) - Eigentlich kaufe ich gerne jeden Tag ein, wenn ich Kochwoche habe. Inzwischen habe ich das auf alle zwei Tage reduziert, die Zutaten für das heutige Abendessen sind schon im Kühlschrank. Es gibt Putenschaschlik auf Brokkolireis.
20:00 Uhr (Sandra Lüpkes) - Putenschaschlik auf Brokkolireis! Lecker! Ich hab ein bisschen zu viel gegessen. Nicht gut, gleich findet meine Online-Chorprobe statt. Kein Scherz! Wir wollen – nein, wir werden! – im Herbst das Requiem von Verdi aufführen. Unsere wunderbaren Chorleiter proben jeden Tag via YouTube mit uns. Dass ich im «Libera me» die Endtöne zu lange aushalte, entgeht dem Dirigenten nicht. Er kennt uns Sopranistinnen eben. Apropos Sopran: Unsere Nachbarn sind toll. Niemand beschwert sich über das hohe C. Gut, wir ertragen ja auch deren nächtliches Möbelgerücke und den Zigarettenrauch auf dem Balkon. In der Probenpause höre ich Jürgen im Nebenzimmer. Er hat heute Online-Theaterprobe. Später treffen wir uns im Wohnzimmer und spielen Kniffel. Wir schreiben die Punkte auf. Wer am Ende der Corona-Krise am meisten hat, darf bestimmen, wohin wir das erste Mal essen gehen. Noch ist nichts entschieden.
20:00 Uhr (Jürgen Kehrer) - Ich treffe meine Theatergruppe bei Zoom. Drei Wochen haben wir uns jetzt nicht gesehen, und alle sind froh über die Begegnung, auch wenn die vielen Köpfe auf dem Monitor zu Briefmarkenformaten schrumpfen. Alle sind von Corona betroffen, die einen mehr, die anderen weniger, und es tut gut, den anderen zu erzählen, wie es einem in letzter Zeit ergangen ist. Dass die Technik nicht immer mitspielt, mal jemand vorübergehend verschwindet oder der Ton sich geisterhaft verzerrt – was soll’s? Wir beschließen, es nächste Woche wieder zu versuchen. Nebenan singt Sandra in höchsten Tönen. Und fast hätten wir es vergessen: unser allwöchentliches Kniffel-Turnier. Ich hole auf, es steht unentschieden. Mal sehen, wer nach Corona führt.»