In Zeiten der Verunsicherung verschiebt sich mitunter der Blickwinkel auf unsere Welt – und bei einigen von uns auch wortwörtlich. Viele arbeiten in diesen Tagen mobil, in ihren eigenen vier Wänden und mit neuer Aussicht. Und vielen fällt es schwer, mit dieser Situation umzugehen. Drinnen zu bleiben und nicht zu wissen, was noch auf uns zukommt.
Wie viele andere machen wir Rowohltianer uns Sorgen - um unsere Familien, Freunde und Bekannte und um unsere Autor*innen. Einige unserer Autor*innen haben wir gefragt, wie sie mit der Pandemie leben. Was sie gerade beschäftigt. Einige der Texte, die uns erreicht haben, sind humorvoll, viele machen nachdenklich und ein paar auch traurig, die meisten geben uns aber Hoffnung. Hoffnung, dass wir diese Krise gemeinsam irgendwie überstehen werden.
«Joa ... bringt ja nix. Geschlossen. Ihr wisst, warum» steht auf einer Tafel vor einer Kneipe in Leipzig, in die ich gern gehe. Oder besser gesagt: in die ich bisher gern gegangen bin. Seit über zwei Wochen bleiben das Licht aus, der Zapfhahn zu und die Stühle am Tresen leer. Ich treffe mich mit meinen Freunden nun via Skype auf einen Gin Tonic. Das war am Anfang merkwürdig, aber ich habe mich schnell daran gewöhnt. Spätestens nach dem dritten Gin.
Ich stamme aus den neuen Bundesländern, bin in der DDR geboren und habe dort eine Dekade gelebt. Das Durchwurschteln ist uns Ossis zu einem Charakterzug geworden. Meine Familie, viele Freunde und Bekannte haben erlebt, wie ein gesamtes politisches und wirtschaftliches System von einem Tag auf den anderen untergehen kann. Die meisten haben ihre Jobs verloren, ihre Gewissheit, ihre Zukunft. Wer so eine existenzielle Erfahrung einmal durchgemacht hat, den ängstigen ein paar Wochen ohne Chef, Pflichterfüllung und Alltagsstress nicht.
Wir sind ja unter uns, darum kann ich sagen: Ich habe meinem vollen Terminkalender, den Einladungen an den Comer See oder nach Paris, dem ständigen Unterwegssein als Reporter nur in den ersten Tagen nachgetrauert. Mittlerweile genieße ich die Muße, die die soziale Distanz mit sich bringt. Interviews führe ich nun telefonisch, Treffen mit den Kolleg*innen finden bei StarLeaf als Videokonferenz statt, Auftritte mache ich jetzt in Podcasts statt auf Bühnen. Endlich finde ich Zeit, Akten zu studieren, die mich schon vorwurfsvoll vom Stapel auf dem Schreibtisch angeschaut hatten, weil ich sie wochenlang mit Missachtung strafen musste. Saß ich kurz vor der Kontaktsperre noch bei einer mutmaßlichen Rechtsterroristin in Bayern auf der Couch (daneben standen 32 Packungen Milch, die sie gepreppt hatte für den Tag X), um sie zu interviewen, recherchiere ich jetzt zu Verschwörungsmythen zum Corona-Virus im Netz.
Neulich habe ich seit langem sogar mal wieder Bücher bestellt, sogar antiquarische. Gerade lese ich mit Genuss den ersten Roman von Dmitrij Kapitelman und entfliehe mit ihm und seinem Vater in meine Lieblingsstadt Tel Aviv. Ich stöbere in dem klugen neuen Band «Guten Morgen, du Schöner» in den Protokollen ostdeutscher Männer. Oder ich lasse mir wunderbare Zeilen von Roger Willemsen vorlesen und frage mich, was er wohl heute zu diesen turbulenten Tagen sagen würde? Und bevor mir die Decke auf den Kopf fällt, hole ich sie lieber selbst runter. Am Wochenende habe ich die schon lange ungeliebte Raufasertapete im Bad von den Wänden gekratzt, ein paar Tage zuvor das Schlafzimmer vollkommen umgestellt.
Natürlich bin ich als Kopfarbeiter in einer sehr privilegierten Situation. Ich brauche theoretisch nur einen Stift und ein Blatt Papier, um mich auszudrücken. Gerüstbauer*innen, Handballer*innen, Kassierer*innen, Theatermacher*innen oder Postbot*innen haben nicht dieses Glück. Aber trotzdem sollten wir alle versuchen, das Schöne an dieser unerwarteten Notbremsung des Lebens zu sehen: Wir haben endlich Zeit für Dinge, die wir schon immer mal oder längst wieder machen wollten. Wir haben Ruhe zum Innehalten und Nachdenken. Und zum gepflegten Gin-Trinken.