Am 14. März 2018 starb der Astrophysiker Stephen Hawking im Alter von 76 Jahren. Mit seiner 10 Millionen Mal verkauften «Kurzen Geschichte der Zeit» avancierte er zum berühmtesten Wissenschaftler der Welt. Bereits als junger Mann hatte er die Diagnose ALS (Amotryphe Lakteralsklerose) erhalten, einer unheilbaren Erkrankung des motorischen Nervensystems. Wie er mit dieser Krankheit zu leben lernte und – trotz oder wegen ALS – mit seinen Forschungen zu einem der größten wissenschaftlichen Denker unserer Zeit werden konnte, hat Stephen Hawking in seiner so pointierten wie amüsanten Autobiografie «Meine kurze Geschichte» erzählt.
David Shukman, Wissenschaftsredakteur bei BBC News: «Alles an Stephen Hawking ist faszinierend: das Schicksal eines Genies, das in einen hilflosen Körper eingesperrt ist; der Anflug eines Lächelns in einem Gesicht, in dem sich nur noch ein einziger Muskel bewegt; die unverwechselbare Roboterstimme, die uns einlädt, an den wunderbaren Entdeckungsreisen eines Verstandes teilzunehmen, der die entlegensten Winkel des Universums durchstreift.»
Hier ein kurzer Text aus Stephen Hawkings Erinnerungsbuch «Meine kurze Geschichte»:
Keine Grenzen
«Als ich einundzwanzig war und ALS bekam, fand ich das außerordentlich unfair. Warum gerade ich? Damals dachte ich, mein Leben sei zu Ende. Ich würde das Potenzial, das ich meiner Meinung nach hatte, niemals ausschöpfen können. Doch heute, über fünfzig Jahre danach, kann ich gelassen auf mein Leben zurückblicken und zufrieden sein. Ich war zweimal verheiratet und habe drei wundervolle, großartige Kinder. Meine wissenschaftliche Laufbahn war erfolgreich: Wohl die meisten theoretischen Physiker würden meiner Vorhersage zustimmen, dass es an Schwarzen Löchern zu einer Quantenemission kommt, obgleich ich dafür bisher noch keinen Nobelpreis bekommen habe, weil es sehr schwierig ist, sie experimentell nachzuweisen. Andererseits wurde mir für die theoretische Bedeutung dieser Entdeckung der viel wichtigere Fundamental Physics Prize verliehen.
Meine Behinderung hat meine wissenschaftliche Arbeit nicht wesentlich beeinträchtigt. Tatsächlich war sie in mancherlei Hinsicht eher von Vorteil: Ich brauchte keine Vorlesungen zu halten und keine Studienanfänger zu unterrichten, und ich musste nicht an langweiligen und zeitraubenden Institutssitzungen teilnehmen. Auf diese Weise konnte ich mich uneingeschränkt meiner Forschung hingeben.
Für meine Kollegen bin ich nur ein Physiker unter vielen anderen, doch für die Öffentlichkeit wurde ich womöglich zum bekanntesten Wissenschaftler der Welt. Das liegt zum einen daran, dass Wissenschaftler, von Einstein abgesehen, keine gefeierten Rockstars sind. Zum anderen verkörpere ich das Klischee des behinderten Genies. Auch eine Perücke und eine dunkle Sonnenbrille würden mir nichts nützen – mein Rollstuhl ist einfach zu verräterisch.
Sehr bekannt und leicht erkennbar zu sein hat seine Vor- und Nachteile. Zu den Nachteilen gehört, dass es manchmal schwierig ist, alltägliche Dinge zu tun. Ich kann nicht einkaufen, ohne von Menschen belagert zu werden, die mich um ein Foto bitten, und die Presse hat in der Vergangenheit ein geradezu unbändiges Interesse an meinem Privatleben gezeigt. Doch diese Nachteile werden von den Vorteilen mehr als aufgewogen. Menschen scheinen sich aufrichtig zu freuen, wenn sie mich sehen.
Mein größtes Publikum hatte ich 2012 bei der Moderation der Paralympics in London. Ich hatte ein gutes und erfülltes Leben. Meiner Meinung nach sollten sich behinderte Menschen auf die Dinge konzentrieren, die ihnen möglich sind, statt solchen hinterherzutrauern, die ihnen nicht möglich sind. Mir war es möglich, die meisten Dinge zu tun, die ich tun wollte. Ich bin viel gereist. Die Sowjetunion habe ich siebenmal besucht. Das erste Mal fuhr ich mit einer Studentengruppe, in der ein Mitreisender – ein Baptist – Bibeln in russischer Sprache ins Land zu schmuggeln versuchte, die er dort verteilen wollte. Er bat uns, ihm dabei zu helfen. Zunächst gelang uns das auch unbemerkt, doch dann waren uns die Behörden auf die Schliche gekommen, und bei der Ausreise wurden wir eine Zeitlang festgehalten. Doch eine offizielle Anklage wegen Bibelschmuggels hätte einen internationalen Skandal und einen unwillkommenen Pressewirbel ausgelöst, und so ließ man uns nach ein paar Stunden gehen. Die übrigen sechs Besuche dorthin unternahm ich, um russische Wissenschaftler zu treffen, die nicht in den Westen reisen durften. Nach 1990, als die Sowjetunion zusammenbrach, zog es die besten Wissenschaftler in den Westen. Seither war ich nicht mehr in Russland.
In Japan war ich sechsmal, in China dreimal. Mit Ausnahme Australiens habe ich, einschließlich der Antarktis, jeden Kontinent bereist. Ich habe die Präsidenten Südkoreas, Chinas, Indiens, Chiles und der Vereinigten Staaten kennengelernt. In der Großen Halle des Volkes in Peking und im Weißen Haus habe ich Vorträge gehalten. In einem U- Boot bin ich getaucht, in einem Heißluftballon geflogen, und ich nahm sogar an einem Schwerelosigkeitsflug teil. Außerdem habe ich bei Virgin Galactic einen Flug ins Weltall gebucht.
In meinen frühen Arbeiten legte ich dar, dass die Allgemeine Relativitätstheorie am Urknall und an Schwarzen Löchern scheitert. Später zeigte ich, wie die Quantentheorie voraussagen kann, was am Beginn und am Ende der Zeit geschieht. Es war wunderbar, in dieser Zeit zu leben und auf dem Gebiet der theoretischen Physik zu forschen. Falls ich etwas zum Verständnis unseres Universums beitragen konnte, wäre mein Glück vollkommen.»
St. Albans, Oxford: Kindheit und Jugend
Stephen Hawking wurde am 8. Januar 1942 geboren, exakt 300 Jahre nach Galileis Tod. Auch wenn sich bestimmt nicht alle Kinder, die an diesem Tag das Licht erblickten, später für Astronomie interessierten – keine schlechte Inspiration für einen, der später als Jahrhundertgenie der Astrophysik gefeiert werden würde. Dass Hawking in Oxford und nicht in London zur Welt kam, hatte einen Grund: «Die Deutschen hatten versprochen, Oxford und Cambridge mit ihren Bomben zu verschonen. Im Gegenzug hatten sich die Engländer bereit erklärt, Heidelberg und Göttingen nicht zu bombardieren.»
Hawkings Mutter, eine gebürtige Schottin, arbeitete nach ihrem Studium in Oxford in verschiedenen Berufen. Sein Vater studierte ebenfalls in Oxford, Spezialgebiet: Tropenmedizin. Als Frank Hawking 1950 eine Stelle am neuerbauten National Institute für Medical Research in Mill Hill am Nordrand Londons erhielt, zog die Familie in die alte Bischofsstadt St. Albans. In der St. Albans School zählte Hawking nicht zu den auffallenden Schülern. Überschaubarer Arbeitseifer, mittelmäßige Noten, lässige Posen – da verwunderte schon ein wenig sein Spitzname unter Mitschülern: «Einstein». Sein Vater wollte den Knaben unbedingt Medizin studieren lassen, Stephen weigerte sich: Die intelligentesten Jungs studierten in Oxford oder Cambridge Mathematik und Physik, nicht Medizin. Der Vater-Sohn-Kompromiss lautete dann: Chemie mit Nebenfach Mathematik. Genie entwickelt sich manchmal auf seltsamen Pfaden.
Ob Hawking ein guter Student war? Schwer zu sagen; allzu viel Fleiß legte er jedenfalls nicht an den Tag: «Ich habe einmal ausgerechnet, dass ich in den drei Jahren in Oxford ungefähr tausend Stunden gearbeitet habe, was einem Durchschnitt von einer Stunde pro Tag entspricht.» In Cambridge konzentrierte er sich dann auf die Fachgebiete Kosmologie und Teilchenphysik. Mit dem Ausbruch seiner Krankheit veränderte sich alles in Stephen Hawkings Leben, buchstäblich von einem auf den anderen Tag. Er war einundzwanzig, als er erfuhr, dass er an einer unheilbaren Krankheit litt: an ALS, Amoytropher Lateralsklerose.
«Wem ein früher Tod droht, der begreift, welchen Wert das Leben hat und dass es noch viele Dinge gibt, die man tun möchte.» Stephen Hawking wollte keine Zeit mehr verlieren – beruflich wie privat. Im Juli 1965 heiratete er seine Kommilitonin Jane Wilde; drei Kinder wurden geboren, Robert, Lucy und Tim. Und: Hawking warf sich voller Elan in die Arbeit. Er hatte sein Lebensthema gefunden – die Zeit, die ihm blieb, wollte er effizient nutzen. Wie gut er sie nutzte, zeigte sich spätestens 1979 mit der Berufung auf den Lucasischen Lehrstuhl für Mathematik, den einst Sir Isaac Newton innehatte.
Das Jahrhundertwerk eines Jahrhundertgenies
Manche großen Ideen stellen sich, wie man weiß, quasi im Vorbeigehen ein. Ein Beispiel: «Meine Arbeit über Schwarze Löcher begann 1970, einige Tage nach der Geburt meiner Tochter Lucy, mit einem Aha-Erlebnis. Während ich zu Bett ging, wurde mir klar, dass ich die Kausalstruktur-Theorie, die ich für Singularitätstheoreme entwickelt hatte, auf Schwarze Löcher anwenden konnte.»
Es ist verblüffend, wie Stephen Hawking es verstand, komplexeste Sachverhalte in ein paar einfachen Sätzen auch für die verständlich zu machen, die Physik in der Oberstufe mit einem großen Glücksgefühl abgewählt haben. Überhaupt ist es eine Freude, über Dinge zu lesen, die man als naturwissenschaftlich unbedarfte Existenz bestenfalls schemenhaft verstehen wird – und die doch irgendwie unglaublich reizvoll, geradezu poetisch klingen: erlöschende Sterne, kosmische Strings, wirbelnde Charm-Teilchen, verdunstende schwarze Löcher, imaginäre Zeit, gekrümmter Raum, Weltformel.
Wer mit Stephen Hawking unterwegs ist, begibt sich auf eine Reise zu den kleinsten Bausteinen der Materie, den Quarks. Fliegt dann zu den entferntesten Punkten unseres Universums – steigt durch Stratosphäre und Ozonschicht, schießt in den Weltraum hinaus, wirft einen Blick zurück auf unseren blauen Planeten, der wie ein funkelnder Edelstein im Dunkel des Alls schwebt. Viele Millionen Lichtjahre später, unsere Sonne ist längst verschwunden und unsere Milchstraße nur eine von vielen Milliarden Galaxien, registriert man geblendet das Leuchten eines Quasars, eines QUAsiStellARen Objekts: heller als 300 Milliarden Sonnen, unendlich ferne Objekte von ungeheurer Dichte und Energie.
Ein glückliches Leben, trotz allem
«Die kurze Geschichte der Zeit», der 1988 veröffentlichte «Ur-Hawking», erreichte Kultstatus, wurde in 40 Sprachen übersetzt und avancierte mit über zehn Millionen verkauften Exemplaren zum erfolgreichsten Sachbuch des 20. Jahrhunderts. Es musste ein populärwissenschaftliches Buch werden, das war Hawking klar; deshalb votierte er entschieden für Bantam Books, deren Lektor Peter Guzzardi sich in vielerlei Hinsicht als Glücksgriff erwies. Dank Hawking wurde «das Warumwoherundwohin, das Sinnieren über das Allergrößte und Winzigkleinste, bis dahin Spezialwissen weniger Gelehrter, zum Partytalk» (Der Spiegel).
In großer Unbefangenheit gab Stephen Hawking Privates über sich preis. Über das Zusammenleben mit seinen beiden Ehefrauen Jane Wilde und Elaine Mason, die immer gravierenderen Auswirkungen seiner Krankheit, die Wichtigkeit technischer Hilfsmittel (Sprachsynthesizer etc.), die Todesgefahr, in der er so oft schwebte. Nüchtern, unlarmoyant und mit trockenem britischem Humor, das war Hawkings Art, über sein Leben zu berichten: «Schließlich wurde ich mit einem Beatmungsgerät, das ich nachts benutzte, nach Hause geschickt. Der Arzt teilte Elaine mit, ich käme nach Hause, um zu sterben. (Ich habe meinen Arzt danach gewechselt.)»
Wer ihn in seinem Hightech-Rollstuhl sah, wird es kaum glauben: Hawking ist in seinem Leben viel gereist, er war sieben Mal in der Sowjetunion, sechs Mal in Japan, mehrfach in China. Er hat in der Großen Halle des Volkes ebenso Vorträge gehalten wie im Weißen Haus, er ist in einem U-Boot-getaucht und in einem Heißluftballon in die Wolken hochgestiegen. Und er buchte bei Virgin Galactic einen Weltallflug. So war Stephen Hawking.