- Was macht für dich Toni Morrisons Sprache aus? Wie bringst du sie ins Deutsche?
Für mich vollbringt Toni Morrisons Sprache das Wunder, einerseits ungeheuer klar und präzise zu sein – knapp, zurückgenommen und kein Wort zu viel –, andererseits und gleichzeitig aber hoch poetisch, bildhaft, schwebend und oft auch mehrdeutig. Manchmal sitze ich stundenlang vor einem Satz und habe den Eindruck, immer weitere Bedeutungsebenen und -schichten in ihm zu entdecken, je länger ich ihn anschaue. Und die gilt es dann alle ins Deutsche zu bringen ... eine (fast) unmögliche Aufgabe, zumindest aber eine echte Herausforderung.
Überrascht hat mich beim Wiederlesen jetzt die große Wärme in ihrem Ton und der Humor – das hatte ich so aus meinen ersten Lektüren nicht in Erinnerung. Und es hat den faszinierenden Effekt, dass alle Figuren in ihren Büchern, ganz gleich, wer sie sind und was für Entsetzlichkeiten sie begehen, auch eine Wertschätzung erfahren – selbst jemand wie Cholly Breedlove in «Sehr blaue Augen». Ihre Figuren sind gemischte Charaktere, differenziert gezeichnet in all ihren guten und schlechten Eigenschaften und mit vielen unterschiedlichen Aspekten, die sie in allen Facetten zeigen und oft erklären – wenn auch nicht rechtfertigen –, wie sie wurden, was sie sind.
Eine weitere große Herausforderung aus übersetzerischer Perspektive ist der Umgang mit dem African American Vernacular English, vor allem in der wörtlichen Rede. Das ist ein gewaltiges Thema, mit dem sich Übersetzende aus dem Englischen schon lange auseinandersetzen, ohne bisher zu einer allgemeingültigen Lösung zu kommen. Es füllt Nachworte, Podien, ganze Bücher, ich skizziere hier also nur in aller unangemessenen Kürze das Grundproblem: Das Deutsche hat keine Variante, die dieser Variante des Englischen – kein Dialekt oder Soziolekt, sondern eine Sprache mit eigenen Regeln, eigener Grammatik und eigenem Vokabular – in ihrer historischen Dimension und ihren Ursprüngen in der Zeit der Versklavung ebenso wie ihrer heutigen flächendeckenden Verwendung über alle Klassen und Bildungsschichten hinweg auch nur im Ansatz entsprechen würde. Wir müssen also immer auf eine mehr oder weniger ausgeprägte Kunstsprache zurückgreifen, wenn wir sie im Deutschen markieren wollen – was wir müssen, denn in den englischen Originalen erfüllt sie eine klare Funktion, nicht nur stilistisch, sondern vor allem auch im Hinblick auf Identität und Community. Die Entscheidung, wie stark wir markieren, treffen wir bisher alle für jede Autorin, jeden Autor, jedes Buch neu, von Fall zu Fall.
Beim Übersetzen von «Sehr blaue Augen» habe ich mich für eine zurückhaltende Markierung der wörtlichen Rede entschieden, die über dezente Umgangssprachemarker, Wortwahl, vor allem aber über den sprachlichen und syntaktischen Rhythmus funktioniert. Der Rhythmus eines jeden Buches ist auch außerhalb der wörtlichen Rede ein entscheidendes Merkmal von Toni Morrisons Sprache und Stil, auf ihn kommt es mir beim Übersetzen also sehr an. Mein Ziel ist, einen natürlichen Fluss zu erzeugen, der im Deutschen funktioniert und idiomatisch klingt, letztlich aber doch immer auch ein klein wenig anders. Ob ich diese Strategie aber genau so auch für die noch kommenden Neuübersetzungen anwenden werde, anwenden kann? Das muss wohl auch ich von Fall zu Fall entscheiden.