Im Gespräch

Gestern war es ein Traum. Heute ist es unser Alltag ...

Kerjégu oder: Über einen Neuanfang zwischen Beeten, Bienen und Bretonen.

Regine Rompa und ihr Hof in der Bretagne
© Pénélope Secher/Regine Rompa/Anton Karsten

«Wir hatten das Gefühl, dass wir die ganze Zeit wie betäubt gewesen waren ...» Es ist ein drastischer Schritt, zu dem sich Regine Rompa und ihr Freund Anton entschließen. Sie kündigen ihre Jobs, verkaufen die kleine Wohnung in Berlin und brechen auf in ihr neues Leben. Dort, «wo das Wetter mindestens zwölfmal am Tag wechselt», auf einem alten Hof im 5-Häuser-Dörfchen Kerjégu in der Südbretagne, versuchen sie, ihren Traum zu verwirklichen. Ein Leben, ethisch und ökologisch verantwortungsvoll, frei und selbstbestimmt nach eigenen Regeln und Werten – im Einklang mit der Natur, mit Menschen, Tieren und Pflanzen.

Das Interview

Dem Buch ist ein Zitat der US-amerikanischen Bürgerrechtsaktivistin Angela Davis vorangestellt: «I am no longer accepting the things I cannot change. I am changing the things I cannot accept.» Was ist bei dir und Anton passiert, um eine so einschneidende Lebensentscheidung zu treffen: Job kündigen, Wohnung verkaufen, losfahren?
Ich war damals wie besessen vom Arbeiten, letztlich auf der Suche nach Sinn. Ich hatte tagsüber einen festen Vollzeitjob in Berlin. Nachts saß ich an Aufträgen als freie Redakteurin und Autorin. Ich dachte: «Wenn du dich noch mehr reinhängst und alles gibst, dann muss dieses Gefühl doch endlich verschwinden!» Es war ein Gefühl der inneren Leere, das mich trieb: resignierte Verzweiflung. Ich meinte, dass ich viel arbeiten, Karriere machen und Geld verdienen musste, um gesellschaftlich anerkannt zu werden.
Gleichzeitig merkte ich, dass ich dabei in die falsche Richtung lief, mein Leben zwischen Arbeiten und Konsumieren die Welt nicht besser machte und mich mein eigenes Leben verpassen ließ. Und ich verachtete mich für diesen Verrat an mir selbst, den ich nur durch noch mehr Arbeiten betäuben konnte, um hoffentlich endlich all die Anerkennung zu bekommen, die die innere Leere füllen könnte. Aber je länger ich akzeptierte, dass ich die Welt nicht ändern konnte und mich ihr anpassen und nach Karriere und Status streben musste, desto größer wurde die Leere.
An dem Abend in unserer Stammpizzeria «Pomodorino» am Petersburger Platz in Berlin ist dann alles aus mir herausgebrochen. Und mein Freund Anton gab überraschend zu, dass es ihm genauso ging wie mir. Wir wollten endlich nach einem Leben suchen, das aus unserer Sicht sinnvoller war. Wir waren es satt, Zugeständnisse bei unseren Überzeugungen zu machen! Deshalb sind wir volles Tempo gefahren: Job gekündigt, Wohnung verkauft, losgefahren.

Die Selbstbeschreibung («ökologisch-digitale Boheme») impliziert, dass ihr beide ohne funktionierendes Internet wohl nicht in Kerjégu, in der Südbretagne gelandet wärt ...
Stimmt: Mit den Möglichkeiten der Digitalisierung ist es zumindest sehr viel leichter geworden. Dank schnellem Internet können wir – Anton als Software-Entwickler, ich als freie Autorin – auch auf dem Land komplett abgelegen noch täglich unsere drei bis vier Stunden am Computer arbeiten und damit das Geld verdienen, das wir für ein einfaches Leben brauchen. Wir versorgen uns hier zwar so weit wie möglich mit Nahrung selbst, nutzen einen alten Brunnen, um das Gemüse zu gießen, und heizen mit Holz aus dem eigenen Wald, aber wir brauchen zum Beispiel Geld für die Kranken- und Rentenversicherung und den Hofkredit. Somit sind wir trotz allem nicht komplett aus der Gesellschaft ausgestiegen, sondern aus einem Lebensentwurf, den wir nicht mehr weiter mittragen wollten.
Mir ist klar, dass es gewagt ist, die Digitalisierung mit einer ökologischen Komponente zu versehen. Aber wahr ist auch: Dank Arbeit übers Internet haben viel mehr Menschen heute die Möglichkeit, wie wir auf dem Land zu leben, weniger zu konsumieren und ihre Nahrung selbst anzubauen – ohne Pestizide, Plastikverpackungen und klimaschädliche Transportwege. Aus den unterschiedlichsten Berufen heraus kann man sich mittlerweile in einen Bereich hineinentwickeln, in dem man aus dem Homeoffice übers Internet arbeiten kann. Im Buch stelle ich viele Menschen vor, die diesen Schritt in die «ökologisch-digitale Boheme» (mit Bezug auf die «digitale Boheme» nach Sascha Lobo und Holm Friebe) gewagt haben. Allen, die wir bisher kennengelernt haben, ist eines gemeinsam: Sie haben es nicht bereut!

Was mich am meisten beeindruckt: In deinem Buch finden sich Aspekte, die weit über die üblichen «Auswanderungs-Themen» hinausgehen – Fragen zum Beispiel nach dem Eigentum und seinen Grenzen («War jetzt alles hier drunter bis zum Erdkern ‹unseres›?»). Oder: Wann beginnt eigentlich das «eigentliche Leben»? Und: «Ist ein unschuldiges Leben überhaupt möglich?»
Ich glaube, die Fragen kommen einfach auf, weil ich zum ersten Mal in meinem Leben wirklich Zeit habe – und gleichzeitig nicht mehr den Zwang spüre, meinen Lebensrhythmus an gesellschaftliche Erwartungen zu binden. Ich habe mich früher viel mit anderen Menschen verglichen und dann natürlich automatisch auch gesellschaftlich akzeptierte Meinungen und Einstellungen anderer übernommen. Wenn man in einem «Dorf» mit aktuell nur drei Menschen lebt – von denen eine über 80 ist und der andere der eigene Freund –, ist aber keiner zum Vergleichen und Übernehmen da. Man muss sich plötzlich selbst Gedanken machen, wie man zu den Dingen steht.

Wie nachsichtig kannst du mit Zweifeln anderer an eurem Lebensstil und Lebensziel umgehen? Nicht alle aus euren Familien, dem Freundes- und Bekanntenkreis konnten euren Entschluss nachvollziehen. An einer Stelle problematisierst du die eigene «Intoleranz» ...
Ich weiß, dass ich nicht perfekt bin, und wir machen in unserem neuen Leben auch jetzt noch viele Fehler. Um zweifellose Perfektion ging es mir aber auch nicht. Anton und ich wollten versuchen, so zu leben, dass wir anderen möglichst wenig schaden und möglichst viel helfen. Wir sind immer noch auf dem Weg und nicht am Ziel, aber wir haben beide den Eindruck, dass es jetzt der richtige Weg ist – für uns! Andere möchten vielleicht lieber einen anderen einschlagen. Das muss, finde ich, jeder selbst entscheiden. Die Intoleranz, die ich im Buch an mir selbst beschrieben habe, richtet sich gegen etwas anderes: gegen gesellschaftlich akzeptierte Formen der Ausbeutung anderer, zum Beispiel auch von Tieren. Wer aber anderen nicht schadet, den toleriere ich auf jeden Fall. Klar darf jeder seine Zweifel an meinen Entscheidungen äußern! Es wäre ja langweilig, wenn alle dieselben Lebensstile und Ziele hätten – und ich lerne auch gern noch dazu.

Eine Frage hat sich mir zwischendurch gestellt: Wäre die Entscheidung, aus Berlin in ein winziges Dorf in der Südbretagne auszuwandern, um einen kleinen Hof zu führen, auch gefallen, wenn du und Anton Kinder hättet – Kinder, die irgendwann zur Schule gehen müssten?
Ich glaube, dass wir trotzdem so entschieden hätten – zumindest wenn die Kinder nicht auf medizinische Hilfe in der Stadt angewiesen wären und auch Lust darauf gehabt hätten, auszuwandern. Zwei Freunde von uns, die auch im Buch vorkommen – Becky und Tom –, sind unter anderem gerade wegen ihrer Kinder aus London in die Bretagne ausgewandert. Hier wachsen die Kinder mitten in der Natur auf. Sie spielen draußen, essen gesunde Nahrung aus eigenem Anbau, haben viel weniger Konsumeinflüsse. Beide sind sehr kreativ, bauen tolle Sachen aus Holz, erfinden selbst Spiele oder Aktivitäten. Und sie sind wunderbar entspannt!
Die Kinder werden in Frankreich auch mitten auf dem Land zusammen mit anderen Kindern morgens vom Schulbus abgeholt und nachmittags wiedergebracht. Und die kleinen Auswanderer wachsen ganz selbstverständlich mehrsprachig auf. Ich wüsste deshalb nicht, was so grundsätzlich dagegen sprechen sollte, mit seinen Kindern auf einen kleinen Hof in der Bretagne auszuwandern.

Einmal Bretagne, immer Bretagne – sicher? Kein Plan B ganz hinten im Hinterkopf? Wie oft vermisst ihr in eurem wunderschönen Dörfchen das, was andere im trubeligen Stadtleben von, sagen wir, Berlin, Bordeaux, Bonn oder Barcelona suchen?
Manchmal vermisse ich Freunde und Familie, aber nicht den alten Lebensstil oder die Stadt als Ort, der diesen propagiert. Vor ein paar Wochen war ich zum ersten Mal wieder in der Großstadt, in Hamburg, und habe meine Rowohlt-Lektorin Julia Vorrath getroffen. So schön der Termin war, habe ich durch die Distanz zur Stadt auch einen neuen Blick auf sie bekommen. Man muss nur mal bewusst darauf achten, wie laut es auf der Straße ist und wie viele in der Bahn auf ihre Handys schauen – und wie fast alle pikiert wegsehen und weiterlaufen, wenn einer aus der Reihe tanzt und sich verrückt benimmt!
Einen Plan B habe ich nicht. Aber ob wir immer in der Bretagne bleiben werden, kann ich natürlich auch nicht sicher sagen. Das «Wie lange» spielt in unseren neuen Leben insgesamt keine so große Rolle mehr wie früher. Wir leben jetzt einfach, ohne es in Zeitabschnitte zu gliedern und abzuhaken oder auf etwas in der Zukunft zuzuarbeiten.

«Unser Hof in der Bretagne» enthält einen hinreißend schönen Bildteil: Haus, Garten, Pflanzen, Tiere, Regine & Anton in Aktion («Wir nennen es Arbeit!»). Müsst ihr nicht befürchten, dass jede*r dritte Leser*in des Buches beim nächsten Bretagne-Besuch das «Haus im Auenland» besichtigen will?
Haha, wirklich nett ... Willst du vorbeikommen? «Jede*r dritte Leser*in», das bringt mich jetzt doch zum Nachdenken. Das wären dann ja ungefähr 300 205 Leute? Ach, die Bretagne ist nicht nur bei uns, sondern eigentlich überall schön. Ich denke nicht, dass die Leser*innen dann genau dieses Haus (und uns darin) unbedingt besichtigen wollen!

Letzter Punkt, ein Schnellcheck: Sind die linksradikalen Punkhühner wohlauf? Wie geht es eurem Hund Twix – albträumt er manchmal noch von seiner Kindheit in einem kroatischen Zwinger? Und: Wie weit ist Antons revolutionärer Plan gediehen, die holländische Monarchie zu stürzen?
Oje, erinnere Anton bitte nicht an die holländische Monarchie ...! Twix geht es gut. Er ist jetzt ein älterer Hundeherr und schon mehr als zehn Jahre bei uns. Aber er ist noch richtig fit und hat seinen Spaß auf dem Hof – zusammen mit seinem Kumpel Argon. Ich glaube nicht, dass er noch an Kroatien zurückdenkt.
Zum anderen Punkt muss ich etwas gestehen, was mir schwerfällt: Der Fuchs hat leider einige unserer Hühner mitgenommen. Es war schrecklich, dass wir nicht schnell genug da waren, um zu helfen. Zuerst war ich entsetzt, dass wir einen so großen Fehler gemacht haben. Mittlerweile sehe ich das anders: Wir haben ein offizielles Wildtierschutzgebiet auf unserem Land gegründet. Gerade haben die Füchse Junge, die sie versorgen müssen. Es ist nicht einfach für Wildtiere, in einer Welt zu überleben, die sich die Menschen komplett unterworfen haben. Der Fuchs hatte keine andere Möglichkeit, er kann ja kein Gemüse anbauen oder Tofu einkaufen gehen. Die Hühner deshalb von jetzt an den ganzen Tag einsperren? Sie lieben es, draußen frei in der Natur herumzulaufen! Absolute Sicherheit in einem Alltag, der eigentlich nicht ihrem Naturell entspricht, könnte das nicht aufwiegen. «Wer sich nicht bewegt, spürt seine Fesseln nicht», hat Rosa Luxemburg einmal gesagt. Die linksradikalen Punkhühner würden sich daher, glaube ich, für ein bewegtes Leben außerhalb des Zauns entscheiden – aber wir passen seitdem dennoch besser auf!

Das Interview führte Harald Krämer

Regine Rompa

Regine Rompa

Regine Rompa, geboren 1981, kommt aus Heidelberg und hat Germanistik, Philosophie/Ethik und Politikwissenschaft mit einem Ergänzungsstudium in Umweltwissenschaften studiert. Danach hat sie für verschiedene Redaktionen und Verlage gearbeitet. Sie lebte in Stuttgart, Bremen, Würzburg, München und zuletzt in Berlin. 2017 hat sie die größte Entscheidung ihres Lebens getroffen: Sie kündigte ihren Job in Berlin und zog mit ihrem Freund Anton auf einen abgelegenen Hof in der Bretagne - mit dem Ziel, endlich ein sinnvolles Leben möglichst im Einklang mit der Natur zu führen.