Im Gespräch

«Russland sucht die Konfrontation mit dem Westen»

«Geschichtskriege», «Informationskriege», Staatsparanoia: Golineh Atai über die Neuformierung einer Großmacht

Golineh Atai
© Joanna Vortmann

Seit dem «Anschluss» der Krim erfindet sich Russland neu: als eine Großmacht, die chauvinistisch spricht und aggressiv handelt. Das sagt Golineh Atai, eine der besten Kennerinnen Russlands, die für ihre Berichterstattung aus Moskau vielfach ausgezeichnet wurde. Sie erklärt die tieferen Gründe für eine Politik, die im Westen vielfach kaum wahrgenommen, in falsche Vergleiche heruntergebrochen oder einfach verdrängt wird.
Die Wahrheit ist: Russland fordert die globale Ordnung heraus – in einer Zeit, in der die Fortdauer ebendieser Ordnung ungewiss ist. Denn Russland sieht sich im Krieg. Und Russlands Aggression existiert darüber hinaus auch in alten und neuen globalen Medien, im Cyberspace, im Wirtschaftsraum.

DAS INTERVIEW

 

Ihr Buch beginnt mit einer Reihe erschreckender Zitate von Präsident Wladimir Putin, Aussagen vom Kaliber: «Machen Sie sich keine Sorgen. Wir werden den Krieg gewinnen.» Was ist das: politisches Machogehabe, wahnhafte Nuklear-Rhetorik – oder gar die strategische Rechtfertigung des nuklearen Erstschlags?
Zum einen sind das Machoposen. Die Botschaft ist: «Vergesst nicht, wir haben Atomwaffen! Vergesst nicht, dass wir sie einsetzen können!» Es gibt für viele im Kreml einen großen Anreiz, das Nuklearthema so oft wie möglich zu erwähnen: In puncto «Nuklearmacht» ist Russland zweifelsohne eine Supermacht – während es in anderer Hinsicht, etwa bei seiner Wirtschaftsleistung oder in seiner demographischen Entwicklung, allenfalls eine Regionalmacht ist. Putin und andere hochrangige Politiker haben das nukleare Säbelgerassel so laut erklingen lassen wie nie zuvor nach dem Kalten Krieg. Das ist Anklage gegen den Westen – und hat zugleich innere Gründe.


Zum anderen müssen diese Machoposen im Kontext der Militarisierung der Mentalität gesehen werden: Das Thema «Krieg» hat in der dritten Amtszeit Wladimir Putins einen definitiven Bedeutungswandel erfahren. Der 9. Mai, der Tag des Sieges über Nazi-Deutschland, erscheint mir nunmehr als «Tag des Krieges», aufwendig und teuer inszeniert, geradezu als eine Art Zivilreligion. Die sorglos geäußerten, populären Slogans «Wir können das (den Sieg) wiederholen» oder «Nach Berlin!» sprechen nicht mehr die Sprache einer Vermeidung des Krieges, eines nachdenklichen, inneren Erinnerns an den Schrecken, einer Feier des Friedens und des «Nie wieder!» Statt Innerlichkeit gibt es vor allem seit 2014 revanchistische Posen und «Krieg ist Spaß!». Ich glaube, wer den Krieg tatsächlich erlebt hat, kann diese Pose sicher nicht teilen.


Drittens: In Russlands Außen- und Verteidigungspolitik spielen Nuklearwaffen eine immer größere Rolle. Vor seinem Wahlsieg 2012 verkündete Putin: «Solange das ‹Pulver› unserer strategischen Nuklearwaffen, erschaffen durch die Mühen unserer Väter und Großväter, ‹trocken› bleibt, wird niemand es wagen, eine große Aggression gegen uns zu entfesseln.» In seinem nationalen Sicherheitskonzept, das er damals vorstellte, versprach er, Russland so stark zu machen, dass «andere nicht in Versuchung gerieten, daran zu denken, Kontrolle über seine Ressourcen zu gewinnen». Er versprach umgerechnet rund 770 Milliarden Dollar für Russlands Verteidigungsindustrie, auch um die gesamte Wirtschaft zu stimulieren. Sein Modernisierungsprogramm strategischer Nuklearwaffen beruhte auf einer verzerrten strategischen Weltsicht, auf der Annahme eines sowjetischen Feindbildes, einer alten Obsession: die USA als größter Rivale Russlands. Eine USA, in denen gerade Barack Obama regierte – einer, der 2009 vom Verschwinden des Kalten Krieges und von der Vision einer nuklearfreien Welt gesprochen hatte. Russland als militärische Bedrohung – für die USA war das damals lange passé. Obama versprach 2010 im New Start-Abkommen den Russen strategische Parität für die Kooperation Moskaus in puncto Iran. Am Ende seiner Präsidentschaft musste Obama feststellen, dass er mit Putin «wegen dessen Vision von militärischer Macht» nicht den Abrüstungsfortschritt gesehen habe, den er sich mit Russland so sehr erhofft hatte. Zum letzten Nukleargipfel in Washington 2016 schickte Russland nicht einmal einen Vertreter. Stattdessen tauchten Tage später im russischen Staatsfernsehen Pläne zum Bau einer neuen russischen Nuklearwaffe auf, deren angeblicher Zweck eine «extensive Zone radioaktiver Verseuchung» war. Deutlicher gehtʼs nicht.
Anders als die USA haben die Russen ihr Nukleararsenal entwickelt und modernisiert. Sie verfügen über geschätzt 2000 taktische Nuklearwaffen, während die USA nur einige hundert hat. Sie haben nun neue Typen von Nuklearwaffen (zum Beispiel eine nukleare Unterwasserdrohne, Hyperschallwaffen etc.), die sie keinesfalls unter die Kontrolle des New Start-Abkommens bringen wollen, das 2021 verlängert werden muss. Das schafft Misstrauen.


Viertens: Einige Veröffentlichungen russischer Militärexperten legen Gedankenspiele nahe über einen begrenzten Nuklearschlag Russlands, der den «Aggressor ernüchtern und seinen Angriff anhalten» solle. Russlands Militärdoktrin aus dem Jahr 2000, von Putin mitentworfen, sprach ausdrücklich von der Möglichkeit eines atomaren Erstschlags. Die Doktrin von 2010 und 2014 schränkte das ein, und zwar für den Fall eines konventionellen oder nuklearen Angriffs, der für Russland existenziell bedrohlich sein könne. Was so ein Fall sein könnte, definiert der Präsident. Russlands Marinedoktrin von 2017 wiederum spricht bedrohlich davon, dass der Gebrauch nichtstrategischer Nuklearwaffen in einem eskalierenden Konflikt einen Feind erfolgreich abschrecken könnte. Und russische Spitzenbeamte reden immer wieder auf eine übertriebene Art und Weise über Nuklearwaffen, die über jede mäßigende Doktrin hinauszugehen scheint.


Präsident Putin hat im vergangenen Jahr die Möglichkeit eines nuklearen Erstschlags ausgeschlossen. Nuklearwaffen seien zur Abschreckung, nicht zur Eskalation gedacht. Aber er widerspricht sich oft. Die exakten Umstände, in denen Russland zu Nuklearwaffen greifen würde, sind unklar. Beide Seiten sollten einander die Nuancen ihrer Nuklearpolitik klar verständlich machen. Stattdessen geht TV-Moderator Dmitrij Kisseljow nach Putins jüngster «Rede an die Nation» vor die Kamera und stellt amerikanische Ziele und Einrichtungen vor, die Moskau in Vergeltung für einen Nuklearschlag angreifen würde. Und nach wie vor weigert sich Moskau zu erklären, worin der genaue Sinn seiner neuen taktischen Nuklearwaffen liegen soll. Das bleibt im Nebel – und der Nebel soll wohl abschrecken, aber er vergrößert nun die Gefahr einer Eskalation. Es entsteht eine gefährliche Zweideutigkeit.
Die USA sind nicht mehr Obamas USA und nehmen Russland nach der Wahleinmischung von 2016 ganz anders wahr. Washington reagierte 2018 auf das russische Säbelrasseln mit einer neuen Atomwaffendoktrin; darin stellt es eine geringere Hemmschwelle Russlands zum Einsatz von Nuklearwaffen fest und eine angebliche Eskalationsstrategie Moskaus. Manche westlichen Experten bestätigen dies, andere sprechen von einer amerikanischen Überreaktion und Fehlinterpretation.


Die in den 1990er Jahren noch bizarr, wie aus der Zeit gefallen wirkende «rotbraune Minderheit» aus «erzkonservativen Orthodoxen, Alt-Kommunisten und Imperial-Nationalisten», schreiben Sie, sei in die politische Mitte der russischen Gesellschaft gewandert – Freaks würden zum Mainstream, so drückte es ein russischer Journalist aus. Was hat sich in und mit Russland verändert seit der von Ihnen konstatierten «Zeitenwende» 2014, dem Übergang zu einem «kalten Bürgerkrieg»?
Am meisten fällt mir auf, wie zentral Verschwörungstheorien im politischen System geworden sind – das Denken, dass «ein Feind da draußen im Westen» gegen «uns» agiert. Diese staatlich betriebene Paranoia ist zuweilen bedrückend für den Beobachter. Protest gegen eine Entscheidung von oben wird schnell als Landesverrat diskreditiert. Es geht nicht darum, dass ein Bürger die Lebensqualität verbessern will – nein, er agiere angeblich im Dienste eines ausländischen Staates. Welchen Wert hat das Individuum, wenn es entweder als demographische Masse zum Machterhalt des Staates herhalten muss oder als geheimer Staatsfeind? Im Denken der Eliten scheint es nur den Staat oder Staaten zu geben, aber keine Menschen.
Zwei Beispiele nur: In Jekaterinburg protestierten Tausende gegen den Bau einer Kirche in einem der städtischen Parks. Nach einer Woche wurden über hundert Menschen dabei festgenommen. Das Staatsfernsehen erklärte deren Motivation zum Protest nicht. Die Demonstrationen seien «ein Versuch, einen Maidan mitten in Russland zu platzieren». Oder sie seien «eine Verhöhnung der Orthodoxie durch amerikanische Einflussagenten», analysierte Wladimir Solowjow, ein TV-Moderator. Solowjow sprach von «Dämonen» auf der Straße, Putin hielt die Demonstranten indirekt für Gottlose. Hier verbindet sich die «Klerikalisierung» des Staates mit dem Verschwörungsdenken – beides vormoderne Phänomene.
Ein Feind-Framing von oben fiel mir auch auf nach dem Brand in einem sibirischen Einkaufszentrum, als zahlreiche Kinder im Feuer starben und Bewohner gegen unfähige und korrupte lokale Behörden demonstrierten – und deswegen verunglimpft wurden. Oder etwa, als Russlands Generalstabschef Walerij Gerassimow im März erneut behauptete, dass das US-Verteidigungsministerium das Protestpotenzial der Landesverräter («fünfte Kolonne») nutze, um Russland zu destabilisieren. Auch die Pläne, das russische Internet mit einer «Mauer» zu versehen oder jeden, der die Regierung geringschätzt, mit Geld- und Haftstrafen einzuschüchtern, sind Zeichen dieses Misstrauens gegenüber dem Menschen, dem Einzelnen.


Es geht nicht nur um die Gegenwart. Auch für die Interpretation der Vergangenheit soll dem Regierungswillen nach eher der Staat und sein positives Bild von sich selbst das entscheidende Kriterium sein, nicht der Mensch. Im Februar wurde in Karelien ein weiterer Historiker verurteilt – zu einer neunjährigen Haftstrafe. Es ist wohl ein politischer Prozess, weil Sergej Koltyrin, Direktor des Historischen Museums in Medweschjegorsk, die Gebeine der in der Region massenhaft verscharrten Menschen als die der Repressionsopfer unter Sowjet-Diktator Stalin identifizierte. Fast achtzig Jahre nach diesen Taten ist das ein politisch nicht genehmer Fund, lieber führt man die Massengräber auf ausländische Übeltäter zurück. Nie galten Fakten und Beweise so wenig wie im heutigen Russland.


Militärische Aggression auf der Krim (samt imperialen Legitimationsnarrativen), Mord an Boris Nemzow, Propagierung eines «Neurussland», Repression in allen Bereichen der Zivilgesellschaft, Informationskrieg (mit Hackerbrigaden und Cyber-Trollen) ... Wie viel Konsequenz und Schärfe seitens der EU-Staaten gegenüber Putins Russland erhoffen Sie sich?
Ich bin Journalistin, nicht Politikerin mit Forderungen. Wenn ich mir etwas «erhoffe», dann die intensivere Beschäftigung der Öffentlichkeit mit Russland sowie mehr Berichterstattung über Russland, Ukraine, Osteuropa und die postsowjetische Welt – und keine gedankliche Marginalisierung dieser Region, weil der Blick in unserer Auslandsberichterstattung zumeist immer nur zum Westen, in Richtung USA, gerichtet ist.


Während Russland begreifen muss, dass die Ukraine nicht Russland ist, habe ich zuweilen den Eindruck, dass auch manche Deutsche dies begreifen müssen. Die alten Landkarten im Kopf sind immer noch wirkmächtig, wie ich feststelle. Der Ukraine wird zuweilen immer noch die Staatlichkeit, die physische und geistige Unabhängigkeit abgesprochen – das ist im Jahre 2019 erschreckend. Wollen wir 1989 zurückdrehen?
Es mutet seltsam an, wenn jede Kritik an der politischen und gesellschaftlichen Gegenwart des Landes hier in Deutschland angehalten wird mit dem Verweis auf die deutsche Verantwortung für die Millionen Opfer des Zweiten Weltkriegs. Meiner Ansicht nach ist es gerade diese historische Verantwortung (die sich nicht nur auf Russland erstreckt, sondern auf alle Völker und heute selbständigen Staaten der Sowjetunion), die einen zwingt, einen auf das Wohlergehen und die Entwicklung der Menschen fokussierten Blick einzunehmen – und weniger eine staatszentrierte Perspektive. Gerade diese Verantwortung ist Anlass, eine Politik des Revanchismus auch kritisch so zu benennen. Sie ist Aufforderung, zu begreifen, was der Staat mit den Menschen macht – und wie eine menschlichere Politik in Russland entstehen kann.


Immer wenn wir von Partnerschaft mit Russland sprechen, wäre es wichtig, sich den Führungsanspruch des Kreml bewusst zu machen: Es geht um eine Politik, die einen verlorenen Rang, einen verlorenen Status, eine verlorene Führung wiederherstellen will – aber sein eigenes Versagen, das zu diesem Verlust führte, nicht analysieren will. Die Frage an uns lautet dann: Wollen wir uns von einer Autokratie führen lassen? Wollen wir in manchen Bereichen unser eigenes Wertesystem aufweichen, um uns anzunähern? Wo haben wir bereitwillig dieser Autokratie das Handeln in Gänze überlassen und selbst nicht gehandelt – und ist das gut gewesen? Ich denke da zum Beispiel an den Krieg in Syrien.


Das Buch macht deutlich, dass 2012 Wladimir Putin sein Land politisch als nichtwestlich und autonom handelnd konzipiert und aufgestellt hat. Er hat nach den arabischen Aufständen die Idee einer Demokratisierung von Diktaturen entwertet und autoritäre Führung als weltweites Modell gestärkt. «Gleichgesinnt» kann dieser Kreml also nicht sein – er hat ein anderes Welt- und Menschenbild. Sich diesen Unterschied bewusst zu machen und ihn zu unterstreichen, ist in jedem Dialog mit Russland hilfreich.


Und schließlich habe ich das Buch geschrieben mit der Frage, ob jene, die bei uns eine «starke Hand» fordern, genau über jene «starke Hand» in Russland informiert sind und tatsächlich so ein System wollen. Wollen wir eine Informationsautokratie, wollen wir dieses patriarchale Menschenbild? Oder wollen wir hier bei uns die eigenen Defizite der liberalen Demokratie beheben, die offene Gesellschaft stärken, soziale Gerechtigkeit schaffen und das Geld von korrupten Politikern und deren Unternehmern nicht mehr im Westen neu recyceln? Das wäre meiner Ansicht nach der beste Weg, um Russlands und Osteuropas Demokraten zu helfen.


Nach wie vor verblüfft die Nähe der deutschen AfD zu Putins Autokratenregime. Wo genau liegen die Berührungspunkte zwischen beiden Positionen, die historisch-ideologisch eigentlich aus gegensätzlichen Lagern kommen?
Das ist in der Tat abstrus. Diese Annäherung fand schon vor 2012 statt, beispielsweise mit der Einladung von rechten und rechtsextremen Politikern als «Wahlbeobachter» in Russland. Moskau und die westlichen Rechten eint der gemeinsame Feind: die Ablehnung liberaler Werte, der gemeinsame antiwestliche Standpunkt sowie das illiberale Menschenbild. Ebenso die Sehnsucht nach der «reinen Ursprünglichkeit» traditioneller, patriarchaler Familienwerte, deren Schutz sie in Russland verwirklicht sehen. Die russischen Neo-Eurasien-Ideologen wie Alexander Dugin haben stets die Neue Rechte nach Russland eingeladen – auf der Suche nach neuen Bündnissen, um der britisch-amerikanischen Hegemonie, wie sie sagen, ein Ende zu setzen und «von Dublin bis Wladiwostok» einen eurasischen kulturellen und geopolitischen Raum zu errichten – also ein Europa unter russischer Führung. Da ist viel antidemokratisches Denken aus dem 19. Jahrhundert dabei sowie völkischer Nationalismus, das Verständnis von Nation als ethnische Zugehörigkeit, das Denken in «Räumen» – und ebenso Martin Heidegger, Carl Schmitt, Oswald Spengler und sein Untergang des Abendlandes von 1918, das sich in Russland in einigen Kreisen ungebrochener Beliebtheit erfreut.


Dass die westliche Rechte dabei das multikulturelle und muslimische Russland oder Phänomene wie Putins Statthalter in Tschetschenien und dessen Scharia-Gesetze, die über russischem Recht stehen dürfen, einfach übersieht und umgekehrt russische Politiker die Verharmlosung der NS-Politik durch einen Alexander Gauland nicht sehen, macht dieses beidseitige Verhältnis nicht logischer. Vereinzelt scheint in Russland in letzter Zeit ein Bewusstsein für die Problematik zu entstehen. Aber russische Bewunderer von Iwan Iljins Werken, der ja in Führungskreisen gerne gelesen wird, scheinen ja auch nicht Iljins rechtes Gedankengut zu erkennen.


Für den Kreml sind die Kontakte und Annäherungen mit westlichen Politikern linker und rechter Provenienz ein Symbol, um der Welt zu zeigen: «Wir sind nicht isoliert, wir haben westliche Mitstreiter.» Diese fordern eine Abkehr von den Sanktionen, sie legitimieren die Krim-Annexion, sie befürworten die Ukraine- und Syrienpolitik Moskaus – und ihre Äußerungen in russischen Staatsmedien lassen den Westen nicht mit einer Stimme sprechen: ein propagandistischer Erfolg für Moskau. Ebenso kann Moskau mit ihrer Hilfe seine Narrative im Westen verbreiten und in europäischen Institutionen platzieren. Beide Seiten eint zudem – das hat das Strache-Video in Österreich gezeigt – autokratisches Denken, eine Verachtung rechtsstaatlicher Normen und freier, kritischer Medien.


Zum Schluss eine persönliche Frage. Sie sind an Ihrem ehemaligen Gymnasium in Baden-Württemberg Patin einer «Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage». Was geben Sie vor dem Hintergrund Ihrer Russland-Erfahrungen den Schüler*innen mit auf den Weg?
Ich gebe ihnen Offenheit mit auf den Weg. Das Erzählen meiner Erfahrungen und Erlebnisse ist ein Denkanstoß, zum einen in die Welt zu gehen – und zum anderen, sich mit den eigenen Normen und Werten, die in der Nachkriegszeit entstanden sind, zu beschäftigen. Wie viel wissen wir über das Grundgesetz? Können wir die Grundrechte und die Demokratie mit falschen Vergleichen relativieren, und welche Folgen hätte das? Ich freue mich sehr, dass mein Gymnasium meinen Vorschlag aufgegriffen und einen Schüleraustausch mit einer Moskauer Schule initiiert hat oder den Russisch-Unterricht wieder anbietet. Gerade hat eine Schülerin mich gebeten, sie als Patin für ihren Freiwilligendienst bei der Aktion Sühnezeichen Friedensdienste zu begleiten. Mir ist es ein Anliegen, dieses feste Fundament, jene Werte, die mir diese Schule nach meiner Ankunft in Deutschland vermittelt hat und die mich geprägt haben, an die Schüler weiterzugeben – gerade in einer Zeit, in der eine neue Ungewissheit über grundlegende Wahrheiten existiert.

Golineh Atai, geboren 1974 in Teheran, war von 2006 bis 2008 für die ARD als Korrespondentin in Kairo und von 2013 bis 2018 Korrespondentin in Moskau, danach arbeitete sie für den WDR in Köln. Seit 2022 leitet sie das ZDF-Studio in Kairo. Sie wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. als «Journalistin des Jahres 2014», mit dem Peter-Scholl-Latour-Preis sowie dem Hanns-Joachim-Friedrichs-Preis. Ihr Buch «Die Wahrheit ist der Feind. Warum Russland so anders ist» (2019) war ein Bestseller. 2021 erschien ihr Buch «Iran - die Freiheit ist weiblich».

Zur Autorin Zu den Büchern

Die Wahrheit ist der Feind

Blickt man auf die Entwicklung Russlands unter Putin, dann erscheint der Angriff auf die Ukraine nicht überraschend. Seit dem «Anschluss» der Krim erfindet sich Russland neu: als eine Großmacht, die chauvinistisch spricht und aggressiv handelt. Das sagt Golineh Atai, die für ihre Berichterstattung aus Moskau vielfach ausgezeichnet worden ist. Sie erklärt die tieferen Gründe für eine Politik, die im Westen vielfach kaum wahrgenommen, in falsche Vergleiche heruntergebrochen oder einfach verdrängt wird. Die Wahrheit ist: Russland sieht sich im Krieg. Und Russlands Aggression existiert darüber hinaus auch in alten und neuen globalen Medien, im Cyberspace, im Wirtschaftsraum. Eine der besten Kennerinnen Russlands erklärt, warum Russland die globale Ordnung offen herausfordert – in einer Zeit, in der die Fortdauer ebendieser Ordnung ungewiss ist.

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