Arbeitshypothese: Stellen wir uns Jim Holt als einen Mann vor, der nichts lieber macht, als sich mit den großen, den ganz großen Fragen des Lebens zu beschäftigen. Die Zeit: nichts als Illusion, «ein verdammtes Mysterium». Das Universum: «ein schreckliches Durcheinander, ungeheuer stümperhaft zusammengeschustert»;. Der Tod: das große Nichts. Der US-amerikanische Philosoph besitzt das Talent, komplizierte Zusammenhänge verblüffend fassbar zu machen, wie sein New-York-Times-Bestseller «Gibt es alles oder nichts?» aufs Schönste zeigt. Ein intellektueller Hochgenuss und ein großes Lesevergnügen – und das nicht nur wegen der «drei bis zehn Pointen pro Seite» (Hannes Stein, Die Welt).
Tour d'Horizon über das Rätsel der Existenz
Es ist die Frage aller Fragen. In aller Klarheit formuliert wurde sie zum ersten Mal vor dreihundert Jahren von dem deutschen Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz: «Warum gibt es überhaupt etwas und vielmehr nichts?» Von ihrer Beantwortung sind wir, so Martin Amis, «noch mindestens fünf Einsteins entfernt». Also sehr, sehr weit. Umso größer die Freude, mit einem Highspeed-Denker wie Jim Holt die Erklärungs- und Deutungswelten zwischen Philosophie, Mathematik und Religion zu durchmessen. Hier ein mit links aus den Angeln gehobener Gottesbeweis, dort eine lässige Anekdote, über die man stundenlang grübeln könnte …
Als Jim Holt Anfang der siebziger Jahre noch ein vom Existenzialismus faszinierter «Milchbart und Möchtegernrebell» an einer Highschool im ländlichen Virginia war, stand er eines Tages in der Collegebücherei vor zwei Büchern mit einschüchternd-wuchtigen Titel: Jean-Paul Sartres «Das Sein und das Nichts» und Martin Heideggers «Einführung in die Metaphysik». Ehe er sich versah, war er infiziert mit der «absoluten Warum-Frage, die eine hinter all den anderen, die die Menschheit jemals gestellt hat». Und nicht jeder geht mit dem Alles-oder-nichts-Ding so pragmatisch-cool um wie Bertrand Russell («Ich würde sagen, dass die Welt einfach da ist, und damit hat es sich»). Kurzum: der junge Mann hatte sein intellektuelles Lebensthema gefunden.
Falls Gott die Welt aus dem vollkommenen Nichts geschaffen hat, wo kommt dann er selber her? Für die Mehrheit der Amerikaner ist das eine Frage aus dem Arsenal gottloser Anmaßung, für die man gefälligst in der Hölle schmoren soll. Aber auch ohne Gotteshypothese und Glaubenskrücke steht man auf dem verminten Alles-oder-Nichts-Gelände ziemlich unbedarft da, wie Holt auf seiner Tour d'Horizon eindrucksvoll belegt.
Die Alles-oder-Nichts-Frage
Newton und Einstein, Sartre und Heidegger, Henri Bergson und Ludwig Wittgenstein, Alexander Lurija und Karl Barth, Stephen Hawking und Richard Dawkins, Samuel Beckett, E. M. Cioran und John Updike: Sie und viele andere der klügsten Denker ihrer Zeit haben sich mit der Frage aller Fragen auseinandergesetzt. Und doch können selbst die schlausten Philosophen, Schriftsteller, Mathematiker, Kosmologen oder Evolutionsbiologen keinen von der «Gegenseite» überzeugen – zwischen Gläubigen und Darwinisten herrscht ein ewiges Patt. Sieht so aus, als seien wir dazu verurteilt, «zwischen Gott und dem tiefen, rohen Absurden wählen zu müssen.» Oder doch nicht?
Was macht uns eigentlich so unruhig an dieser Pattsituation, an der offensichtlichen Nichtbeantwortbarkeit der Existenzfrage? Jim Holts Erklärung klingt plausibel: «Ja, für den Verstand fühlt sich das an, als werde das Handtuch geworfen. Es ist eine Sache, sich mit einem Universum ohne Zweck und Bedeutung abzufinden, das haben wir alle schon einmal in einer dunklen Nacht unseres Gemüts getan. Aber ein Universum ohne Erklärung? Das heißt dann wohl doch, die Absurdität zu weit zu treiben, zumindest für eine begründungssüchtige Spezies wie unsere.»
Heute hier, gestern nicht, morgen fort
Dass Holts Buch so unterhaltsam ist, liegt am humorvoll-eleganten Duktus seiner Argumentation. Und an den hinreißenden Porträts seiner vielen Gesprächspartner, die er im Laufe seiner Recherchen getroffen hat: Philosophen und Theologen, Mystiker und Kosmologen, Teilchenphysiker und Neurobiologen, Buddhisten und Kampfatheisten. Wie sehr ihm das Vergnügen bereitet haben muss, lassen Sätze wie dieser ahnen: «Das Gesicht der Frau war eine bleiche Maske aus lederhäutigem Frohsinn, und sie sprach mit einer leisen heiseren Stimme, die mich an Jeanne Moreau erinnerte …»
Zu den interessantesten Experten, die Holt traf, zählt der 1990 in die USA eingewanderte russische Physiker Andrei Linde, der heute an der Stanford University lehrt. Schon als junger Wissenschaftler in Moskau begann Linde mit obsessiver Lust, über die Entstehung des Kosmos nachzudenken. So entstand eine neue Version der Urknalltheorie, mit der er drei Fragen zu beantworten versuchte: «Was knallte? Warum knallte es? Und was war, bevor es knallte?»
Linde ist in Expertenkreisen für schräge Einfälle und hintergründigen Humor bekannt; auch seine Theorie der chaotischen Inflation klingt wie ein Scherz: Es sei theoretisch wie praktisch möglich, quasi in Heimwerker- bzw. Hacker-Manier, ein Universum zu erschaffen. Man nehme: ein Tausendstel Gramm Materie, «um ein Klümpchen Vakuum zu erzeugen, das sich zu Milliarden und Abermilliarden Galaxien aufbläht, wie wir sie um uns herum sehen. (…) Was also hindert uns, ein Universum im Labor zu erschaffen? Wir wären wie Götter!»
Dass seine Theorie klitzekleine Lücken aufweist, gesteht der russisch-amerikanische Meisterdenker allerdings freimütig ein …